Vaterland
die Ewigkeit zu erstrecken.
Die Registratorin, eine fette Frau in einer schmutzigen Uniformbluse, vormals Wärterin im Gefängnis Plötzensee, fragte nach seinem Ausweis. Er gab ihn ihr, wie er das während der letzten zehn Jahre mehr als einmal pro Woche getan hatte. Sie sah ihn sich an, wie sie das immer tat, als ob sie ihn nie zuvor gesehen hätte, dann sein Gesicht, dann zurück, dann gab sie ihn zurück, und dann reckte sie ihr Kinn hoch, etwas zwischen Anerkennung und Hohn. Sie wackelte mit dem Finger. »Und nicht rauchen.«, sagte sie, zum 500. Mal. Aus dem Regal mit Nachschlagewerken neben ihrem Schreibtisch wählte er sich Wer ist's? aus - einen rotgebundenen Band von über 1000 Seiten. Er nahm sich auch die schmalere Parteiveröffentlichung, Führende Persönlichkeiten der NSDAP, der bei jedem Eintrag auch paßfotogroße Bilder enthielt. Dieses Buch hatte Halder am Morgen verwendet, um Bühler zu identifizieren. Er trug beide Bände zu einem Tisch und drehte die Leselampe an. Weit weg summten die Heizkessel. Die Registratur war verlassen. März zog von den beiden Büchern den NSDAP-Führer vor. Der war seit Mitte der dreißiger Jahre mehr oder weniger jährlich veröffentlicht worden. Oftmals war er während der dunklen ruhigen Nachmittage des Winters herabgekommen, um in der Wärme die alten Au s gaben durchzublättern. Es bewegte ihn, zu verfolgen, wie die G e sichter sich verändert hatten. Die frühen Bände wurden von den ergrauten Ex-Freikorps-Kommunistenhassern b e herrscht, Männer mit Nacken breiter als ihre Stirnen. Sie starrten sauber g e schrubbt und unbehaglich in die Kamera, wie Landarbeiter aus dem 19. Jahrhundert in ihren Son n tagsanzügen. Aber in den Fünfzigern hatten die Bierhau s krakeeler den glatten Technokraten vom Typ Speer Platz gemacht - wohlerz o gene Akademiker mit leerem Lächeln und harten Augen.
Einen Luther gab es. Vorname: Martin. Das, Volksg e nossen, ist nun wirklich ein historischer Name, mit dem man herumspielen kann. Aber dieser Luther sah seinem historischen Namensvetter überhaupt nicht ähnlich. Er ha t te ein Puddinggesicht mit schwarzem Haar und dicker Hornbrille. März nahm sein Notizbuch heraus.
Geb.: 16. Dezember 1899, Berlin. Diente 1914-1918 in der Transportabteilung des Deutschen Heeres. Beruf: Möbe l packer. Trat am 1. März 1933 NSDAP und SA bei. A b geordneter des Bezirks Dahlem im Berliner Stadtrat. Ei n tritt in den Auswärtigen Dienst 1936. Leiter der Abteilung Deutschland im Auswärtigen Amt bis zur Pensionierung 1933. Beförderung zum Unterstaatssekretär im Juli 1941.
Die Einzelheiten waren spärlich, aber klar genug für März, um den Typus zu erraten. Fade und aggressiv, ein wüster Straßenpolitiker. Und ein Opportunist. Wie Tause n de andere hatte sich Luther gedrängt, wenige Wochen nach der Machtübernahme durch Hitler Parteimitglied zu we r den.
Er blätterte weiter bis zu Stuckart, Wilhelm, Doktor der Jurisprudenz. Die Fotografie war eine Studioaufnahme, das Gesicht in brütendem Halbschatten wie das eines Filmstars aufgenommen. Ein eitler Mann und eine eigenartige M i schung. gekräuseltes graues Haar, intensiver Blick, gerade Kiefernlinie - aber ein schlaffer, fast wollüstiger Mund. März machte sich weitere Notizen.
Geb.: 16. November 1902, Wiesbaden. Studierte Jura und Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten München und Frankfurt/Main. Promovierte Juni 1928 Magna cum laude. Trat der Partei in München 1922 bei. Verschiedene Posten bei SA und SS. 1933 Oberbürgermeister von Ste t tin. 1935-55 Staatssekretär im Reichsministerium des I n nern. Veröffentlichungen: Kommentar zu den deutschen Rassegesetzen, 1936. 1944 zum E h ren-SS-Obergruppenführer befördert. Kehrte 1953 in die private Rechtspraxis zurück.
Das war ein von Luther völlig verschiedener Charakter. Ein Intellektueller, ein alter Kämpfer wie Bühler; ein Überfli e ger.
Oberbürgermeister von Stettin, einer Hafenstadt von n a hezu 300 000, im Alter von 31 ... Plötzlich wurde März klar, daß er das alles vo r gar nicht langer Zeit schon einmal gelesen hatte. Aber wo? Er konnte sich nicht erinnern. Er schloß die Augen. Na los doch.
Wer ist's? fügte nichts Neues hinzu, außer daß Stuckart unverheiratet war, während Luther bereits die dritte Frau hatte. Er fand ein e leere Doppelseite in seinem Notizbuch und zeichnete drei Kolumnen ein; überschrieb sie mit Bü h ler, Luther und Stuckart; und begann, Datenlisten anzul e gen. Chronol o gien anzulegen
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