Vaterland
war ihm sein bevorzugtes Mittel, eine M e thode, Muster in einem Nebel aus Zufällen aufzuspüren.
Sie wurden alle etwa zur gleichen Zeit geboren. Bühler war 64; Luther 68; Stuckart 61. Sie waren alle in den Dre i ßigern in den Staatsdienst getreten - Bühler 1939, Luther 1936, Stuckart 1935.
Sie hatten alle ungefähr die gleichen Ränge erreicht - Bühler und Luther waren Staatssekretäre gewesen, Luther Unterstaatssekretär. Sie hatten sich alle in den Fünfzigern zur Ruhe gesetzt - Bühler 1951, Luther 1955, Stuckart 1953. Sie mußten einander alle gekannt haben. Sie hatten sich alle am vergangenen Freitag um 10 Uhr getroffen. Wo war der Zusammenhang?
März lehnte sich in seinem Stuhl zurück und starrte zu dem Gewirr von Röhren hinauf, die einander wie Schla n gen über die Decke jagten.
Und dann erinnerte er sich. Er warf sich vorwärts auf die Füße.
Neben dem Eingang lagerten lose gebundene Bände vom >Berliner Tageblatt<, vom >Völkischen Beobachter< und von der SS-Zeitung >Das Schwarze Korps<. Er blä t terte die Seiten des >Tageblatt< durch, bis zu der Ausgabe von gestern, bis zu den Todesanzeigen.
Da war es. Er hatte es gestern abend gesehen.
Parteigenosse Wilhelm Stuckart, ehemals Staatssekretär im Reichsministerium des Innern, der plötzlich am Son n tag, dem 13. April, an Herzversagen gestorben ist, wird immer als ergebener Diener der nationalsozialistischen S a che in der Erinnerung ... Der Boden schien sich unter se i nen Füßen zu bewegen. Es wurde ihm bewußt, daß die R e gistratorin ihn anstarrte. »Geht es Ihnen nicht gut, Herr Sturmbannführer?« »Doch. Mir gehts gut. Wollen Sie mir einen Gefallen tun?«
Er nahm sich einen Anforderungszettel und trug St u ckarts vollen Namen mit dem Geburtsdatum ein. »Sehen Sie doch bitte nach, ob es über ihn eine Akte gibt.«
Sie blickte den Zettel an und streckte eine Hand aus. »Ihren Ausweis.«
Er gab ihn ihr. Sie leckte den Bleistift an und trug die 12 Ziffern von März' Dienstnummer auf dem Zettel ein. Auf diese Weise konnte man nachprüfen, welcher Kr i po-Fahnder welche Akte wann angefordert hatte. Damit war für die Gestapo klar, daß er dranblieb, ganze acht Stunden, nachdem man ihm den Fall Bühler entzogen hatte. Ein we i terer Beweis seines Mangels an nationalsozialistischer Di s ziplin. Das war nicht zu ändern.
Die Registratorin hatte einen langen hölzernen Schu b kasten voller Karteikarten hervorgezogen und ließ ihre eckigen Fingerspitzen über sie hinwegmarschieren. »Stroop«, murmelte sie. »Stmnck, Struß. Stülpnagel ...« März sagte: »Sie sind schon vorbei.« Sie grunzte und zog einen Streifen rosafarbenen Papiers heraus. »Stuckart, Wi l helm< -«. Sie sah ihn an. »Es gibt eine Akte. Die ist nicht da.« »Wer hat sie?« »Sehen Sie selbst«
März beugte sich vor. Stuckarts Akte befand sich bei Sturmbannführer Fiebes von der Kripo-Abteilung VB (3). Der Abteilung für Sexualverbrechen.
Der Whisky und die trockene Luft hatten ihn durstig gemacht. Im Korridor vor der Registratur gab es einen Trinkwasserbehälter. E r nahm sich einen Becher und übe r legte, was er jetzt tun sollte.
Was würde ein vernünftiger Mann getan haben? Das war einfach. Ein vernünftiger Mann würde getan haben, was Max Jäger jede n Tag tat. Er würde sich seinen Hut aufse t zen, seinen Mantel anziehen und nach Hause zu Weib und Kindern gehen. März hatte dies e Wahl nicht. Die leere Wohnung in der Ansbacher Straße, die streitenden Nac h barn und die Zeitung von gestern übten kein e Anziehung s kraft auf ihn aus. Er hatte sein Leben de r maßen auf einen Punkt eingeengt, daß ihm als einziges seine Arbeit blieb.
Wenn er die aber verriete, was bliebe dann noch?
Und dann war da noch etwas, jener Instinkt, der ihn j e den Morgen aus dem Bett in einen Tag schleuderte, der ihn nicht willkomme n hieß, und das war die Begierde zu wi s sen. Bei der Polizeiarbeit gab es immer eine neue Kre u zung, die man erre i chen, eine andere Ecke,
um die man spähen konnte. Wo war die Familie Weiß, und was war mit ihr geschehen? Wessen Leiche lag da im See? Wie hingen di e Tode von Bühler und Stuckart z u sammen? Das ließ ihn weitermachen, sein Segen oder sein fluch, sein Zwang zum Wissen.
Und also gab es letzten Endes doch keine Wahl.
E r warf den Pappbecher in den Abfallkorb und stieg die Treppen hinauf.
SECHS
Walther Fiebes saß in seinem Büro und trank Schnaps. Von einem Tisch unter dem Fenster aus beobachtete ihn eine Reihe von fünf
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