Vaterland
menschlichen Köpfen - weiße Gipsköpfe mit Schädeldecken an Scharnieren, alle hochgeklappt wie Klodeckel, alle wiesen ihre Gehirne als rote und graue Se k tionen vor - die fünf Arten, aus denen das Deutsche Reich bestand.
Schilder kennzeichneten sie von links nach rechts, in der absteigenden Reihung ihrer Annehmbarkeit für die Behö r den. Kategorie Eins: rein Nordisch. Kategorie Zwei: vo r wiegend Nordisch oder Faliskisch. Kategorie Drei: harm o nische Mischlinge mit leichten alpindinarischen oder med i terranen Eigenschaften. Diese drei Gruppen k a men für die Mitgliedschaft in der SS in Frage. Die anderen konnten keine öffentlichen Ämter bekleiden und starrte n Fiebes vorwurfsvoll an. Kategorie Vier: Mischlinge übe r wiegend ostbaltischen oder alpinen Ursprungs. Kategorie Fünf: M i schlinge außereuropäischen Ursprungs.
März war ein Eins/Zwei; Fiebes ironischerweise ein Grenzfall Drei. Aber schließlich waren die Rassenfanatiker selten die blauäugigen arischen Übermenschen - die waren nach den Worten des >Schwarzen Korps< »zu leicht g e neigt, ihre völkische Mitgliedschaft für gesichert anzus e hen«. Statt dessen wurde über die schwammigen Grenzen der germanischen Rasse von jenen gewacht, die des Wertes ihres Blutes weniger sicher waren. Unsicherheit bringt gute Grenzwächter hervor. Der fränkische Schulmeister mit se i nen knöchrigen Knien, lächerlich in seiner Lederhose; der bayerische Ladenbesitzer mit seinen Glasmurmeln; der ro t haarige thüringische Buchhalter mit dem nervösen Tick und der Vorliebe für jüngere Mitglieder der Hitlerjugend; der Lahme und der Häßliche, die kleinsten Ferkel aus dem nationalen Wurf - das waren die lautesten Verteidiger des Volkes.
So war es auch bei Fiebes - dem kurzsichtigen, krum m schultrigen, gehörnten Fiebes mit den vorstehenden Zähnen -, den das Reich mit der einzigen Arbeit gesegnet hatte, die er sich wirklich wünschte. Homosexualität und Rassenm i schung hatten Vergewaltigung und Inzest als Kapitalve r brechen abgelöst. Abtreibung, »ein Sabotageakt gegen Deutschlands rassische Zukunft«, wurde mit dem Tode bestraft. Die permissiven Sechziger zeigten eine starke Neigung zu solchen Geschlechtsverbrechen. Fiebes, vom Wesen her ein Lakenschnüffler, arbeitete während all der Stunden, die ihm der Führer schenkte, und war dabei nach Max Jägers Worten so glücklich wie ein Schwein in der Pferdescheiße.
Aber heute nicht. Heute trank er im Büro, seine Augen waren wäßrig, und sein Fledermaustoupet hing leicht schräg. März sagte: »Den Zeitungen zufolge starb Stuckart an Herzversagen.« Fiebes zwinkerte.
»Aber der Registratur zufolge befindet sich die Akte Stuckart bei Ihnen.« »Dazu kann ich nichts sagen.«
»Natürlich können Sie. Wir sind doch Kollegen« März setzte sich und zündete sich eine Zigarette an. »Ich nehme an, wir haben es mit dem bekannten Spiel zu tun, >der F a milie Peinlichkeiten ersparen<.« Fiebes murmelte: »Nicht nur der Familie.« Er zögerte. »Kann ich davon eine h a ben?« »Natürlich, März gab ihm eine Zigarette und bot ihm Feuer an. Fiebes nahm versuchsweise einen Zug, wie ein Schuljunge.
»Diese Angelegenheit hat mich ganz schön erschüttert, März, wie ich gern zugebe. Der Mann war für mich ein Held.« »Haben Sie ihn gekannt?«
»Dem Ruf nach natürlich. Getroffen habe ich ihn in Wirklichkeit nie. Warum? Was haben Sie für ein Intere s se?« »Staatssicherheit. Das ist alles, was ich sagen kann. Sie wissen ja, wie das ist.«
»Aha. Jetzt verstehe ich.« Fiebes goß sich einen weit e ren großen Schnaps ein. »Wir haben ne ganze Menge g e meinsam, März, Sie und ich.«
»Haben wir?«
»Sicher. Sie sind der einzige Fahnder, der so oft hier ist wie ich. Wir haben uns von unseren Frauen getrennt, von unseren Kindern - von all dieser Scheiße. Wir leben für die Aufgabe. Wenn es da gut geht, geht es uns gut. Wenn es da schlecht geht.. .« Der Kopf fiel Ihm nach vorne. Dann sagte er: »Kennen Sie Stuckarts Buch?« »Leider nein.«
Fiebes zog eine Schublade heraus und gab März, einen abgestoßenen ledergebundenen Band. Kommentar zu den deutschen Rassegesetzen März blätterte es durch. Da gab es Kapitel zu jedem der 3 Nürnberger Gesetze von 1935: das Reichsbürgergesetz, das Geset z zum Schutze des deu t schen Blutes und der deutschen Ehre, das Gesetz zum Schutze der rassischen Gesundheit des deutschen Volkes. Einige Passagen waren rot unterstrichen mit Ausrufeze i chen am Rand. »Zur
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