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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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Eintrittskarten verkaufen. Wäre kein schlechter Maßstab für den eigenen Selbstwert, wie viel man dem Publikum dafür abknöpfen könnte.«
    Ich stand von der Couch auf, sagte Eddie, er solle ohne mich weitermachen, und ging zum Schlafzimmer meines Vaters. In der offenen Tür blieb ich stehen und starrte stumpfsinnig auf das maßlose Chaos und Durcheinander, in dem sich vielleicht, vielleicht auch nicht, ein grünes Notizbuch mit der geheimen Geschichte meiner Mutter verbarg. Normalerweise betrat ich das Schlafzimmer meines Vaters nicht, aus demselben Grund, aus dem man nicht zu einem Mann reingeht und quatscht, wenn er gerade auf dem Klo sitzt, aber das hier war wichtig genug, um meine eigene Regel zu brechen. Ich trat sozusagen in die offenen Eingeweide meines Vaters, in seinen heulenden Sandsturm; dass er hier drinnen schlief, war an sich schon eine Leistung.
    Ich machte mich an die Arbeit. Zuerst musste ich mir einen Weg durch ein Archiv von vor sich hin gilbenden Zeitungen bahnen, das jeder öffentlichen Bibliothek zur Ehre gereicht hätte. Aufeinandergestapelt und bis in die dunklen Ecken des Zimmers gequetscht, bedeckten sie den ganzen Boden bis zum Bett. Ich trat auf Zeitungen und stieg über Dinge, die er eigentlich nur aus Mülltonnen gezerrt haben konnte, und andere, die aussahen, als hätte er sie Leuten aus dem Mund gepult. Unterwegs fand ich längst verschollen Geglaubtes: die Tomatensoße, den Senf, sämtliche Teelöffel, die Suppenlöffel und die großen Essteller. Ich öffnete einen der Schränke und stieß unter einem Berg von Kleidung auf den ersten Stapel Notizbücher - es müssen gut hundert Stück gewesen sein. Alle waren sie schwarz. Schwarz, schwarz, schwarz. Im zweiten Schrank fanden sich weitere hundert, enttäuschenderweise wieder alle schwarz. Ich trat in den Schrank - er war sehr tief. Dort fand ich einen Stapel Magazine, versuchte aber, mich nicht damit aufzuhalten. Dad hatte bei allen Fotos die Augen ausgeschnitten. Ich versuchte, mir nicht zu viele Gedanken darüber zu machen. Ein Mann darf doch wohl eine Zeitschrift lesen und alle Augen darin ausschneiden, wenn er meint, dass sie ihn unverschämt ansehen, oder? Ich ignorierte die Zeitschriften und drang tiefer in den Schrank vor (es war ein sehr tiefer Schrank!). Ein weiterer Karton enthielt einen weiteren Stapel Notizbücher und dazu die ausgeschnittenen Augen aus den Magazinen. Sie beobachteten mich unbarmherzig, während ich in den Notizbüchern herumkramte, und schienen sich genauso zu weiten wie meine eigenen, als ich, in den Boden des Kartons gekeilt, ein grünes fand.
    Ich nahm es an mich und verzog mich schleunigst aus diesem bedrückenden Raum. Im Wohnzimmer hörte ich Eddie Selbstgespräche führen. Ich ging in mein Zimmer, um mir das grüne Notizbuch vorzunehmen.
    Die Kanten waren abgestoßen. Die Tintenschrift war teilweise zerlaufen, aber nicht so, dass sie unleserlich geworden wäre. Die Handschrift pendelte zwischen klein und penibel und groß und verschnörkelt, und in späteren Passagen, wo die Zeilen diagonal über die Seiten liefen, sah es aus, als hätte er die Notizen auf dem Rücken eines Kamels oder in einem Boot bei schwerer See gekritzelt. Einige Seiten wurden gerade noch so von einer Heftklammer zusammengehalten, und wenn man das Notizbuch schloss, ragten ihre Ecken heraus wie Lesezeichen.
    Es hatte ein Titelblatt, auf Französisch: «Petites misères de la vie humaine.«
    Das bedeutete nicht, wie ich zuerst dachte, klein und miserabel, sondern eher so etwas wie »Kleine Ärgernisse des menschlichen Lebens«. Mir wurde ein wenig mulmig. Das half mir allerdings, mich für die Geschichte zu wappnen, wie ich auf die Welt kam, die Geschichte, die in diesem Tagebuch stand und die ich hier abdrucke, damit Sie sie lesen können.
     

PETITES MISERES DE LA VIE HUMAINE
    11. Mai
    Paris - die ideale Stadt, um darin einsam und verzweifelt zu sein. London, zu grimmig, um dort halbwegs würdevoll als Trauerkloß zu leben. Ach, London! Du schauerliche Stadt! Du alte graue Suppenküche! Du niedriger Himmel aus Blei! Du gepresstes Stöhnen! Du hoffnungsloser Seufzer im Nieselregen! Du seichter Genpool! Du Karrierestadt! Du spröde Stadt! Du gestürztes Empire! Du Seite-drei-Stadt! Lektion aus London: Die Hölle ist nicht glühend rot, sondern grau und kalt.
    Und Rom? Voller sexueller Aggressoren, die noch bei ihrer Mutter leben.
    Venedig? Zu viele Touristen, dumm und gläubig, die italienische Tauben füttern - und die

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