Vatermord und andere Familienvergnuegen
von Anouk. »Bali« in dicken roten Lettern über einem Bild von Reisbauern in einem Feld. Auf die Rückseite hatte sie geschrieben: »Ihr beide braucht Urlaub«, das war alles. Den brauchten wir allerdings.
Ich rollte mich auf die Seite. Irgendetwas Hartes in seinem Kissenbezug drückte gegen meinen Kopf. Ich schüttelte das Kissen - und heraus fiel eine schwarze Kladde. Sie hatte hundertvierzig Seiten, alle durchnummeriert. Okay, ich war der Einzige, der meinen Dad befreien konnte, und dieses Buch würde mir sagen, wie. Das Problem war, dass es ein gewisses Risiko barg, sich in den Geisteszustand meines Vaters hineinzuversetzen, weil seine Denkweise einen umschloss, und zwar nicht langsam, nach und nach, sondern abrupt wie ein zuschnappendes Fangeisen. Das Beste war also, ironisch zu lesen, und mit diesem Gedanken im Hinterkopf nahm ich alle Kraft zusammen und fing an.
Wie nicht anders zu erwarten, war es eine zutiefst unerfreuliche Erfahrung, wie es wohl alle Expeditionen in Persönlichkeitszerfall und Wahnsinn sind. Ich las es zweimal. Es gab Frustrationen allgemeiner Natur, wie auf Seite 88:
»Ich habe zu viel Freizeit. Freizeit bringt Menschen zum Nachdenken; nachdenken macht Menschen zu morbiden Selbstbeobachtern; und falls man nicht wasserdicht und fehlerlos ist, führt exzessive Selbstbespiegelung zu Depressionen. Darum stellen Depressionen die zweithäufigste Erkrankung dar, nach Augenermüdung durch Internetporno.«
und beunruhigende Betrachtungen über mich, wie auf Seite 21:
»Armer Jasper. Wenn ich ihn im Schlaf beobachte, während ich zu lesen vorgebe, glaube ich nicht, dass ihm bewusst ist, dass sein Minutenstapel Tag für Tag kleiner wird. Vielleicht sollte er sterben, wenn ich sterbe?«
und Betrachtungen über sich selbst:
»Mein Problem ist, dass ich mich nicht in einem Satz zusammenfassen kann. Ich weiß nur, wer ich nicht bin. Und dann ist mir aufgefallen, dass zwischen den meisten Menschen die stillschweigende Übereinkunft besteht, zumindest zu versuchen, sich ihrer Umgebung anzupassen. Ich habe immer den Drang verspürt, dagegen aufzubegehren. Aus diesem Grund packt mich, wenn ich im Kino sitze, sofort der unwiderstehliche Drang, ein Buch zu lesen. Zum Glück habe ich immer eine Taschenlampe dabei.«
Ein immer wiederkehrender Gedanke war Dads Bedürfnis, sich zu verstecken, allein zu sein, sich zu isolieren, unbehelligt zu sein von Lärm und Menschen. Dads übliche Tiraden. Aber zu meiner Überraschung gab es auch Anflüge von Größenwahn, die ich so noch nicht von ihm kannte, Passagen in seinem Notizbuch, aus denen der Wunsch sprach, die Welt zu dominieren und zu verändern - eine Evolution seiner Zwangsgedanken sozusagen -, was sein Verlangen nach Isolation in einem neuen Licht erscheinen ließ. Ich las daraus jetzt den Wunsch nach einem abgeschotteten Führerbunker, in dem er seinen Anschlag planen konnte. Zum Beispiel dies:
»Eine symbolische Reise kann unmöglich in einer Wohnung stattfinden. Ein Ausflug in die Küche hat nichts Metaphorisches. Man kann hier nirgendwo aufsteigen! Auch nicht absteigen! Kein Raum! Keine Vertikalität! Keine Kosmizität! Wir brauchen ein geräumiges, luftiges Haus. Wir brauchen Nischen und Winkel und Ecken und Hohlräume und Dachkammern und Treppen und Keller und Mansarden. Wir brauchen eine zweite Toilette. Für die eine, zentrale Idee, die mich als Mann des Geistes in einen Mann der Tat verwandelte, gibt es hier keinerlei Ansatzpunkte. Die Wände sind zu nahe an meinem Kopf, und es gibt zu viel Ablenkung - der Straßenlärm, die Türklingel, das Telefon. Jasper und ich müssen in den Busch ziehen, damit ich dort die Pläne für meine wichtige Aufgabe ausbreiten kann, die ich als Ei schon in mir trage, obwohl ich selbst noch nicht aus meinem Ei geschlüpft bin. Ich bin ein halb fertiger Mann, und ich brauche einen Ort intensiver Konzentration, wenn ich in ein goldenes Ohr flüstern und das Gesicht dieses Landes verändern soll.«
und dies:
»Emerson hat es richtig erkannt! >In dem Moment, in dem wir jemandem begegnen, wird jeder von uns zum Fragment< sagte er. Das ist mein Problem. Ich bin nur ein Viertel des Mannes, der ich sein sollte. Vielleicht sogar ein Achtel. Dann sagte er: >Die Stimmen, die wir in der Einsamkeit hören, werden schwach und unhörbar, wenn wir in die Welt treten. < Genau das ist mein Problem: Ich kann mich nicht hören! Und dann sagte er noch: >Es ist leicht, vor den Augen der Welt nach den
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