Vatermord und andere Familienvergnuegen
einzigen Menschen hatte ich erzählt, dass mein Großvater von den Nazis brutal umgebracht worden war, und das wurde ich jetzt nie wieder los. Im Großen und Ganzen hielt sich der Antisemitismus an unserer Schule in Grenzen, bis auf die üblichen Witze über Geld und Nasen, Nasen und Geld, riesige Nasen, aus denen Geld rieselte, grapschende jüdische Hände, die sich Geldscheine in ihre jüdischen Riesennasen stopften. So was eben. Nach einer Weile denkt man nicht mehr an die hässliche Gesinnung hinter den Witzen, man wünscht sich nur, sie wären lustiger.
»Ich finde, du hast ein dummes Gesicht, Jude.«
»Und ich bin auch zu klein«, sagte ich, weil ich mich erinnerte, dass mein Dad mir einmal gesagt hatte, am besten könne man seine Feinde verwirren, wenn man ihre Beleidigungen noch übertrumpfte.
»Warum bist du so dumm?«, fragte er.
»Ich weiß nicht. Damit befasse ich mich, wenn ich rausgefunden hab, warum ich so hässlich bin.«
Brett hatte den Dreh schnell raus und sagte zu mir: »Ich bin hässlicher als du und habe auch noch eine schlechte Hand-Auge-Koordination.«
»Ich kann nicht rennen, ohne über meine eigenen Füße zu fallen«, gab ich zurück.
»Ich habe noch nie ein Mädchen geküsst und werde es wohl auch nie.«
»Ich habe schreckliche Akne auf dem Rücken. Die Narben werden mich ein Leben lang entstellen.« »Tatsächlich? Ich auch.«
Charlie Mills drängelte sich durch den Mob und fing ebenfalls an. »Das ist gar nichts«, sagte er. »Ich bin fett, hässlich, ich stinke, ich bin dumm, und ich bin adoptiert.«
Harrison stand dumm da und versuchte, sich etwas einfallen zu lassen. Wir sahen ihn an und prusteten plötzlich los. Das war ein guter Moment. Dann trat Harrison mit der Zuversicht dessen, der die Biologie auf seiner Seite weiß, auf mich zu. Er schubste mich, und ich versuchte, mein Gewicht auf meinen vorderen Fuß zu verlagern, aber das machte mir nichts aus. Ich fiel mit dem Gesicht nach unten auf den Asphalt. Zum zweiten Mal kam ich mit Blutspritzern auf meinem weißen Hemd nach Hause.
Eddie, Dad und Anouk saßen auf der Veranda und tranken Tee; sie sahen erschöpft aus. Die Stille lastete schwer auf ihnen. Irgendetwas sagte mir, dass ich gerade eine hitzige Auseinandersetzung verpasst hatte. Der Rauch von Eddies Nelkenzigaretten hing in der Luft. Doch das Blut auf meinem Hemd brachte sie wieder ins Leben zurück. Sie standen sofort parat, wie drei Gelehrte, die zehn Jahre lang darauf gewartet hatten, dass ihnen jemand eine Frage stellt.
Anouk kreischte gleich los. »Bist du von einem Schulhofschläger tyrannisiert worden? Gib ihm doch meine Telefonnummer und sag ihm, er soll mich anrufen. Ich wette, Meditation würde aus ihm einen anderen Menschen machen.«
»Bezahl ihn«, sagte Eddie. »Wenn du das nächste Mal mit ihm redest, nimmst du eine Einkaufstüte voll Geld mit.«
Um seine väterliche Autorität zu wahren, rief Dad aus seinem Sessel: »Komm her, Junge, ich muss dir etwas sagen!« Ich ging die Treppe zur Veranda hoch. Er klopfte sich aufs Knie und gab mir damit grünes Licht, mich draufzusetzen. Ich blieb lieber stehen. Dad sagte: »Weißt du, auf wem sie auch immer rumgehackt haben? Sokrates. Du hast richtig gehört. Sokrates. Ganz richtig. Eines Abends, als er unterwegs war, um mit ein paar Freunden zu philosophieren, kam dieser Kerl, dem nicht passte, was Sokrates sagte, einfach auf ihn zu und trat ihm so kräftig in den Arsch, dass er zu Boden fiel. Sokrates blickte zu ihm auf und schenkte ihm ein Lächeln. Er nahm es unglaublich gelassen hin. Ein Zuschauer fragte: >Warum tust du nicht etwas oder sagst etwas?<, und Sokrates erwiderte: >Wenn dich ein Esel träte, würdest du ihn schelten?<«
Dad wieherte vor Lachen, was seinen Körper derart durchschüttelte, dass ich froh war, dass ich mich nicht auf sein Knie gesetzt hatte. Es bockte wie ein Rodeo-Bulle. »Verstehst du das? Verstehst du das?«, fragte Dad und lachte schallend.
Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich es natürlich verstand. Aber um die Wahrheit zu sagen: Ich würde einen Esel, der mich getreten hat, unbedingt schelten, ihn vielleicht sogar zum Abdecker schaffen. Ist doch mein Esel, mit dem kann ich machen, was ich will. Na jedenfalls, die Pointe ist, dass ich die Pointe der Story kapierte, sie half mir nur ebenso wenig weiter wie Eddies und Anouks unrealistische Vorschläge. Ich kann euch sagen, Dad, Eddie und Anouk, die drei Lichter, die mich durch meine Kindheit geleiteten, taten nichts
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