Vatermord und andere Familienvergnuegen
dünnen Mann.«
»Ja, vielleicht.«
Brett saß auf der Bettkante und kaute auf seinen Fingernägeln. Heute gebe ich zu, dass meine Wahrnehmung an diesem Tag etwas vernebelt gewesen sein muss. Alle Fingerzeige hatte ich übersehen. Das Nägelkauen interpretierte ich nicht als Hilfeschrei oder als Hinweis darauf, dass er bald stumm und dumm im Erdboden verrotten würde. Nach Bretts Tod sezierte ich diesen Nachmittag endlose Male im Geiste. Ich dachte: Hätte ich es nur gewusst, dann hätte ich etwas sagen, etwas tun können, irgendwas, um ihn davon abzubringen. Heute frage ich mich: Warum wünschen wir unsere Lieben ins Leben zurück, an dem sie so offenkundig verzweifelten? Haben wir sie wirklich so sehr gehasst?
Der Tag, an dem Brett Selbstmord beging, war ein Montag.
Wir hatten Pause, und alle schwatzten begeistert über eine Party am Samstagabend. Ich grinste, weil ich mir einsam und unerwünscht vorkam; mir schien es, als sei das komplette Telefonbuch von A. Aaron bis Z. Zurichman eingeladen gewesen, nur ich nicht. Ich malte mir aus, wie es wohl wäre, einen Nachmittag lang beliebt zu sein, und kam zu dem Schluss, dass ich dann jeden abklatschen müsste, wenn ich den Flur entlangging. Das würde mir nicht gefallen, dachte ich gerade, als ich eine Stimme schreien hörte: »Es ist einer gesprungen! Es ist einer gesprungen!«
»Noch ein Selbstmord!«
Die Schulglocke schrillte und hörte gar nicht mehr auf. Wir rannten alle über das Oval und auf die Klippen zu. Ein Lehrer befahl uns, zurückzukommen, aber wir hörten nicht auf ihn. Sie wissen, was Massenhysterie ist - Massenneugierde ist sogar noch stärker. Wir ließen uns nicht zurückbeordern, drängten zum Rand der Klippe und guckten nach unten. Die Wellen krachten gegen die Felsen, als würden sie etwas verdauen: Es war tatsächlich ein Körper da unten, ein Schüler. Wer auch immer es war, seine gesamten Knochen mussten bei dem Aufprall zerschellt sein. Es schien, als sähen wir bloß eine Schuluniform, die in der Waschmaschine herumgewirbelt wurde.
»Wer ist es? Wer ist es?«
Leute weinten, trauerten um irgendeinen. Aber um wen? Um wen trauerten wir? Es kletterten schon Schüler den steilen Pfad hinunter, um nachzusehen.
Ich brauchte nicht hinzusehen. Ich wusste, dass es Brett war. Woher ich es wusste? Weil Charlie neben mir stand, und mein einziger anderer Freund war Brett. Die Tragödie war zu meiner eigenen geworden; ich wusste, dass sie irgendwie mich betraf - und ich behielt recht.
»Es ist Brett White!«, bestätigte eine Stimme von unten.
Mr. White stand unmittelbar neben uns und schaute nach unten, wie wir anderen. Er richtete sich auf und wankte leicht. Und alle starrten ihn an, als er dort am Rand der Klippe stand und in sich zusammenfiel wie eine römische Ruine. Dann lief er den Pfad hinunter, watete ins Meer, nahm seinen toten Sohn in die Arme und schluchzte, bis die Polizei ihm Brett aus den kalten, nassen Händen riss.
2
Bretts Abschiedsbrief fiel in die falschen Hände. Ein paar neugierige Schüler entdeckten ihn in seinem Spind, und noch bevor er bei den zuständigen Stellen landete, war er schon in der ganzen Schule herumgereicht worden.
»Seid nicht traurig meinetwegen, es sei denn, ihr seid bereit, euer Leben lang traurig zu sein. Wenn nicht, vergesst es. Was sind schon ein paar Wochen mit Tränen und Bedauern, wenn ihr einen Monat später wieder lacht? Nein, vergesst es. Vergesst es einfach.«
Ich persönlich fand Bretts Abschiedsbrief ja ziemlich gut. Er stieß gleich zum Kern des Problems vor. Er hatte die menschliche Gefühlstiefe ausgelotet und für zu seicht befunden, und das hatte er in Worte gefasst. Gut gemacht, Brett, wo du auch sein magst! Er ging nicht in die Falle, in die die meisten Schreiber von Abschiedsbriefen tappen - in denen Leute immer Schuld zuweisen oder um Vergebung bitten. Kaum jemand hinterlässt mal hilfreiche Tipps, wie mit seinen Haustieren zu verfahren ist. Ich glaube, der ehrlichste und erhellendste Abschiedsbrief ist jener des britischen Schauspielers George Sanders, der schrieb:
»Liebe Welt, ich verlasse dich, weil ich mich langweile. Ich finde, ich habe lang genug gelebt. Ich verlasse dich und deine Sorgen in dieser süßen Jauchegrube. Alles Gute.«
Ist das nicht umwerfend? Er hat so recht. Sie ist eine süße Jauchegrube. Und indem er den Brief an die Welt richtet, muss er sich keine Sorgen machen, er habe irgendwen ausgelassen. Er formuliert lakonisch und klar die
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