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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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und dass dies ein siebenjähriger Junge war, machte alles noch viel großartiger. Sieben! Erst sieben! Er war der Mozart des Sports, ein Wunderkind, wie es noch niemand gesehen hatte. Die ganze Stadt liebte ihn abgöttisch, all die schmachtenden Blicke schmeichelten ihm, ermutigten ihn. Es lässt sich nicht anders sagen: Es war die absolute Heldenverehrung. Auch die Lokalzeitungen veranstalteten einen großen Wirbel um Terry Dean. Wenn in einer davon etwas über junge Sportler stand, die das Zeug dazu hatten, Sportgeschichte zu schreiben, und dabei Terrys Name auftauchte, kriegte sich mein Vater vor Freude kaum ein.
    Und falls du dich fragen solltest, nein, es gab keinerlei Rivalität zwischen uns Brüdern, nicht einen Anflug von Neid meinerseits, und auch wenn ich mich so abgemeldet fühlte wie eins der ausgebrannten Autowracks in den heruntergekommenen Problemvierteln, war ich doch stolz auf meinen Bruder, den Supersportler. Aber Sorgen machte ich mir schon auch: Ich war der Einzige, der merkte, dass hinter Terrys Sport mehr steckte als nur Talent und Begeisterung.
    Es war nicht etwa sein Spiel als solches, was mich daraufbrachte, sondern sein Verhalten als Zuschauer. Erstens bekam man vor einem Spiel keine zwei Worte aus ihm heraus. Das waren die einzigen Male in meinem Leben, in denen ich so etwas wie Angst oder Sorge an ihm bemerkte. Und ich habe ihn vor Gericht erlebt, als ihm ein Lebenslänglich bevorstand - ich weiß also, wovon ich rede.
    Wenn wir als Zuschauer zu einem Football-Spiel gingen, überkam ihn eine tiefe innere Erregung: Für Terry war das leere Oval ein dunkler, mystischer Ort. Wenn das Spiel dann begann, saß er kerzengerade und erwartungsvoll da, sein Mund stand halb offen, die Augen klebten am Geschehen. Er war zutiefst bewegt. Es war, als höre er eine Sprache, die nur er allein verstand. Er saß in stummer Andacht da, als erlebe er Heiliges - als sei es ein Akt für die Unsterblichkeit, wenn man in den letzten dreißig Sekunden noch ein Tor erzielte. Ob Sieg oder Niederlage, nach einem Spiel war er in tiefster Seele zufrieden und von religiöser Inbrunst erfüllt. Wenn seine Mannschaft ein Tor schoss, durchfuhr ihn tatsächlich ein Schauder. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, und egal, was andere sagen, ein kleiner Junge, der vor religiöser Inbrunst erbebt, ist einfach nur gespenstisch. Ein Unentschieden konnte er nicht ertragen. Nach einem Unentschieden konnte man mit ihm nicht reden. Und Fehlentscheidungen des Schiedsrichters machten ihn rasend. Wenn ich dann fragte: »Können wir jetzt nach Hause gehen?«, drehte er mir ganz langsam das Gesicht zu, die Augen voller Schmerz, der Atem flach; er schien wirklich zu leiden. Nach derart unbefriedigenden Spielen gingen wir zu Hause alle wie auf rohen Eiern (gar nicht so einfach, wenn man an Krücken läuft).
    Wie ich bereits gesagt habe, hatten Terry und ich ein vollkommen unterschiedliches Körpergefühl. Waren seine Gesten lässig, locker, frisch und frei, waren meine schwerfällig, schmerzhaft, zögerlich und unbeholfen. Aber der Unterschied zwischen uns trat am deutlichsten bei unseren Leidenschaften zutage, und gegensätzliche Leidenschaften können etwas sehr Trennendes sein. Wenn du zum Beispiel einen Freund hast, bei dem sich alles darum dreht, dass er die wahre Liebe nicht gefunden hat, und ein anderer ist Schauspieler und kann nur darüber reden, ob Gott ihm die richtige Nase mitgegeben hat, entsteht zwischen den beiden eine kleine Mauer, und die Gespräche zerfallen in konkurrierende Monologe. Etwas Ähnliches bahnte sich auch zwischen Terry und mir an. Terrys einziges Gesprächsthema waren Sportidole. Nicht dass mich das nicht interessierte, aber ein wesentlicher Reiz der Heldenverehrung liegt darin, sich vorzustellen, die Taten seines Helden selber zu vollbringen. Und ich muss sagen, ich fand nur geringes Vergnügen daran, mir vorzustellen, ein Tor zu erzielen oder tausendfünfhundert Meter in weniger als vier Minuten zu laufen. Tagträume, in denen ein begeistertes Publikum ausrief: »Mann, ist der schnell!«, brachten mir nicht viel. Es war offenkundig, dass ich eine ganz andere Art von Idol brauchte.
    Terrys Leidenschaft beherrschte schließlich sein ganzes Leben; alles andere, von den Mahlzeiten bis zum Klogang, waren nur lästige Unterbrechungen, in denen er nicht sportlich aktiv sein oder über Sport nachdenken konnte. Kartenspiele langweilten ihn, Bücher langweilten ihn genau wie Schlaf, Gott, Essen und Zuneigung,

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