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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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Schmollmünder funkionieren folgendermaßen: Sie lassen auf ein momentanes Unzufriedensein schließen und reizen einen, etwas dagegen zu tun. Man denkt: Wie wäre ich froh, wenn ich diesen Mund zum Lachen bringen könnte. Evolutionsgeschichtlich ist der Schmollmund noch jung. Steinzeitmenschen kannten ihn noch nicht.
    Ich saß immer in der dunkelsten Ecke des Cafés und sah zu, wie sie Getränkekisten aus dem Keller hochschleppte. Weder sie noch ihr Vater kümmerten sich groß um mich oder behandelten mich etwa besonders nett, obwohl ich doch ihr einziger Kunde war. Ich saß in der Ecke, trank Milkshakes und Coca-Cola, las meine Bücher und dachte meine Gedanken; vor mir ein leeres Notizbuch, versuchte ich, einen schriftlich fixierbaren Sinn in den Visionen zu finden, die ich im Koma gehabt hatte. Jeden Tag brachte sie mir meine Getränke, doch ich war zu schüchtern, mit ihr zu sprechen. Wenn sie »Hallo« sagte, sagte ich: »Okay.«
    Eines Tages setzte sie sich zu mir; ihr Gesicht sah aus, als wolle es gleich in höhnisches Lachen ausbrechen. »Alle halten deinen Bruder für den Größten«, sagte sie.
    Ich fiel beinahe vom Stuhl, so ungewohnt war es für mich, angesprochen zu werden. Als ich mich wieder gesammelt hatte, sagte ich souverän: »Tja, du weißt ja, wie die Leute sind.«
    »Ich finde, er ist ein Angeber.«
    »Tja, du weißt ja, wie die Leute sind.«
    »Er hält sich für Gott weiß was.«
    »Tja«, sagte ich.
    Und das war's. Der einzige Mensch in der ganzen Stadt, der meinen Bruder nicht absolut toll fand, war das Mädchen, in das ich mich verliebte. Na ja. Selbst bei den Kennedys muss es irgendwelche geschwisterlichen Rivalitäten gegeben haben. Wie alle anderen ging auch Caroline zu den Spielen, doch ich konnte sehen, dass sie ihn wirklich hasste, denn jedes Mal, wenn die Menge aufsprang und Terry applaudierte, blieb sie sitzen, unbeweglich wie ein Bibliotheksregal, und schlug nur die Hand vor den Mund wie bei schlimmen Nachrichten. Und du hättest sie sehen müssen, wenn Terry ins Café gestürzt kam, um mich nach Hause zum Essen zu holen! Sie redete nicht mit ihm, sah ihn nicht einmal an, und ich muss gestehen, dass ich diese Szene herrlich fand, denn in diesen fünf Minuten bekam Terry auch mal einen kleinen Happen ab von der fetten, schleimigen Kröte, die ich einen elenden Tag nach dem anderen zu schlucken gezwungen war.
    Aus diesem Grunde geht Caroline Potts als meine erste Freundin in die Geschichte ein. Jeden Tag unterhielten wir uns in diesem düsteren Café, und ich war endlich in der Lage, viele meiner angestauten Gedanken auszusprechen, was für eine spürbare Verbesserung meiner seelischen Verfassung sorgte. Ich begegnete ihr mit feuchten Handflächen und präpubertärer Lüsternheit, und selbst wenn ich langsam auf sie zuging, war der Anblick ihres lächelnden, leicht androgynen Gesichts ein so tiefer Schock, als wäre sie aus dem Nichts vor mir erschienen. Natürlich war mir klar, dass sie sich mit mir angefreundet hatte, weil auch sie sonst niemanden hatte, aber ich glaube, meine höhnischen Bemerkungen gefielen ihr wirklich, und wir gingen völlig d'accord, wenn wir angewidert über die grenzenlose Blödheit der Verehrung sprachen, die die ganze Stadt meinem Bruder entgegenbrachte. Ich verriet ihr das Geheimnis, das ich über ihn wusste: seine unheimliche, religiöse Ehrfurcht vor dem Sport. Es fühlte sich gut an, nicht mehr der Einzige zu sein, dem klar war, dass mit Terry Dean etwas nicht ganz stimmte. Aber kurz nachdem Caroline und ich uns angefreundet hatten, passierte etwas Schreckliches, und dann wusste es jeder.
    Es war auf einer Geburtstagsparty. Der Gastgeber wurde fünf, ein bedeutender Anlass. Meinen eigenen fünften Geburtstag hatte ich wegen des Komas verpasst, aber ich war trotzdem nicht besonders scharf darauf, hinzugehen, weil ich davon ausging, dass es eine eher düstere Angelegenheit sein würde, wenn, na ja, die kindliche Unschuld erste Zeichen von Abnutzung zeigt und der Fünfjährige sich erschrocken und traurig zu fragen beginnt, warum er plötzlich hin- und hergerissen ist zwischen Ehrgeiz und dem Wunsch, länger im Bett zu bleiben. Deprimierend! Aber ich war nun meiner Krücken ledig und konnte meine Krankheit nicht länger als Vorwand benutzen, dem Leben auszuweichen. Terry hingegen war voller Begeisterung und stand schon in der Morgendämmerung in seinen Partyklamotten an der Haustür. Mittlerweile solltest du die Antwort auf die lästige Frage kennen, wie

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