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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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unsere Eltern ödeten ihn an und ich irgendwann auch. Wir begannen, uns über alberne Dinge zu streiten, vor allem über mein Verhalten; nun, da er Gefallen gefunden hatte am Leben in der Gesellschaft von Kindern, die nicht jammernd im Bett lagen, empfand er meine allumfassende Negativität und angeborene Freudlosigkeit als Mühsal. Er begann, mich wegen jeder Kleinigkeit zu kritisieren: Er mochte es nicht, wie ich den Leuten mit meiner Krücke sanft auf die Schulter klopfte, wenn ich an ihnen vorbeiwollte, er mochte es nicht, dass ich immer schnell herausfand, worauf jemand stolz war, und das dann sofort ins Lächerliche zog, und er war es leid, dass ich allem und jedem mit Misstrauen begegnete, von Kirchentüren bis zu lächelnden Gesichtern.
    Bedauerlicherweise sah Terry nach nur wenigen Monaten in mir genau das, was ich war: ein elfjähriger Miesepeter, ein verbittertes, depressives, aggressives, selbstgefälliges, abstoßendes, gemeines, kurzsichtiges, misanthropisches Kind - du kennst den Typ. Die Tage, an denen er mir nachlief, mir nachhustete und so tat, als teile er meine stechenden Bauchschmerzen, waren nur noch eine ferne, süße Erinnerung. Sicher, aus heutiger Sicht erkennt man leicht, dass Terrys Zorn und seine Vorwürfe aus Frustration und Zuneigung entstanden; er konnte nicht begreifen, warum ich nicht so glücklich und unbeschwert durchs Leben ging wie er. Aber damals konnte ich nur Verrat darin erkennen. Mir schien, dass alle Ungerechtigkeiten der Welt mir wie ein heftiger Wind ins Gesicht bliesen.
     
    Nun, da mir gerade mein einziger Verbündeter verloren gegangen war, wollte ich mich nur noch verkriechen, aber so etwas wie Anonymität existiert in einer Kleinstadt nicht. Obskurität, ja. Anonymität, nein. Es ist wirklich scheußlich, dass man nicht die Straße entlanggehen kann, ohne dass jemand Hallo sagt und einen anlächelt. Das Beste wäre, man machte Orte ausfindig, die alle anderen hassen, und versteckt sich dann dort. Selbst in einer kleinen Stadt gibt es Ecken, die von fast allen gemieden werden - die musst du dir merken, denn dort kannst du dich in Ruhe aufhalten, ohne dass du dich in dein Schlafzimmer einmauern musst. In unserer Stadt gab es einen Laden, den Lionel Potts eröffnet hatte. Nie setzte dort jemand auch nur einen Fuß hinein, denn Lionel war der am meisten verachtete Mann der ganzen Gegend. Alle hatten ihn auf dem Kieker, ich verstand aber nicht, warum. Sie sagten, es läge daran, dass er ein »reiches Schwein« sei. Sie dachten: Für wen hält der sich eigentlich, dass er sich keine Sorgen wegen der nächsten Miete macht? Was für eine Frechheit!
    Ich war der Meinung, es müsse irgendein düsteres Geheimnis um Lionel Potts geben. Dass ihn die Leute hassten, weil er reich war, konnte ich nicht glauben, denn ich hatte festgestellt, dass die daraufbrannten, selbst reich zu werden - wieso sonst sollten sie Lotterielose kaufen, tolle Geschäftsideen aushecken und sich auf Pferdewetten einlassen? Für mich ergab es keinen Sinn, dass die Leute ausgerechnet das hassen sollten, wonach es sie am meisten verlangte.
    Sein Café war schwach erleuchtet, und mit den Tischen aus dunklem Holz und den langen Holzbänken sah es aus wie eine spanische Taverne oder ein Stall für Menschen. Es gab Zimmerfarne, Gemälde von übertrieben elegant gekleideten Männern zu Pferde sowie eine Reihe von Schwarz-Weiß-Fotografien von einer Gruppe von uralten, majestätischen Bäumen, dort, wo heute die Apotheke steht. Das Lokal war von frühmorgens bis spätabends leer; ich war der einzige Gast. Lionel beklagte sich ständig bei seiner Tochter, dass er über kurz oder lang schließen und das Geschäft aufgeben müsse, beäugte mich dabei neugierig und fragte sich offensichtlich, wieso ich der Einzige in der Stadt war, der sich nicht an dem Boykott beteiligte. Manchmal starrte mich auch seine Tochter an.
    Caroline war elf Jahre alt, groß und schlank und lehnte meist mit halb offenem Mund an der Theke, als sei sie überrascht. Sie hatte grüne Augen und Haare von der Farbe eines köstlichen goldgelben Apfels. Brüste hatte sie keine, dafür kräftige Arme und Schultern; ich weiß noch, wie ich dachte, dass sie mir bei einer Schlägerei wahrscheinlich überlegen wäre und wie peinlich das sein würde, sollte es tatsächlich dazu kommen. Mit elf besaß sie das, was schließlich auf den Catwalks von Paris zur Perfektion gebracht werden sollte - einen Schmollmund. Damals wusste ich das noch nicht, aber

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