Vatermord und andere Familienvergnuegen
erscheint wie eine Serie von Fotos, die aus dem Fenster eines Schnellzugs geschossen wurden? Habe ich auf meiner Hochzeit Tintenfischsalat erbrochen, oder war das auf Anouks? War ich das, der vor dem Altar stand, wie aus Holz geschnitzt, oder war es Oscar Hobbs? Auf wessen Hochzeit brach zwischen Jasper und mir eine hitzige philosophische Debatte über Dankesschreiben aus? Und ich weiß nicht, ob es an meinem neuen Erfolg oder an meinem neuen Leben mit Caroline lag, aber jedenfalls hatte ich einen höchst gefährlichen Anfall von Wunschdenken und begann, mich entgegen all meinen Überzeugungen gegen den Tod zu sträuben - ich nahm den Kampf mit dem Krebs auf.
Ich ließ mir Blut abzapfen, ich pinkelte in Schraubgläser, ich wurde mit Röntgenstrahlen beschossen, zur Computer- und Kernspintomografie in sargähnlichen, piependen Röhren aufgebahrt und unterzog mich einer hoch dosierten Chemotherapie als Ergänzung zur Strahlentherapie. Ich war erschöpft und kurzatmig, hinzu kamen Übelkeit, Kopfschmerzen, Durchfall und Verstopfung. Meine Hände und Füße kribbelten. Ich hatte ständig ein Geräusch im Ohr, sodass ich sogar meine inneren Monologe nur undeutlich vernehmen konnte.
Die Ärzte verordneten mir Ruhe, aber wie sollte ich zur Ruhe kommen? Ich war frisch verheiratet und hatte ein ganzes Land zu korrumpieren. Somit tat ich in allem mein Bestes. Ich trug einen Hut und eine Sonnenbrille, um meine Haut vor der Sonne zu schützen. Ich mied Speisen mit allzu kräftigem Geruch. Ich schor mir den Kopf, damit niemand merkte, dass mir das Haar ausfiel. Bluttransfusionen gaben mir die nötige Kraft. Unglücklicherweise kann Chemotherapie zu Unfruchtbarkeit führen. Glücklicherweise machte mir das nichts aus. Caroline ebenso wenig, und als wir wieder und wieder gemeinsam Dr. Sweeny aufsuchten, dachte ich, dass sie womöglich der erste Mensch sei, der sich für mich in die Schusslinie werfen würde, falls Kugeln auf mich zukämen und ich sie nicht abkriegen wollte. Verstehen Sie mich richtig, ich sage nicht, dass unsere Beziehung so leidenschaftlich ist, wie man es von der Beziehung mit der Liebe seines Lebens allgemein erwartet. Ist sie nicht, aber ich kann ihr daraus keinen Vorwurf machen. Ich bin schließlich nicht die Liebe ihres Lebens, ich bin ein Ersatz, ich springe nur für meinen Bruder ein. Es hatte etwas Holistisches, wie ich in den Augen der Nation und vielleicht nun auch im Schlafzimmer an ihm gemessen wurde.
Sie werden daher verstehen, dass ich Ihnen über diese sechs Monate nichts Genaues sagen kann, weil meine Erinnerungen an diesen Zeitraum eher wie verpfuschte Erinnerungsimplantate wirken. Ich kann mich noch nicht einmal an die Wahlen erinnern, nur daran, dass mich an jeder Straßenecke Plakate mit meinem vorwurfsvollen Gesicht anstarrten. Mehr noch als die Berichterstattung im Fernsehen und in den Zeitungen - nichts verstieß derart brutal gegen meine frühere Anonymität wie diese allgegenwärtigen Plakate.
Ob mir das Unwahrscheinliche gelungen ist? Ich schaffte um Haaresbreite den Sprung ins Parlament. Das ist das Herrliche an einer Demokratie: Man kann ganz legitim ein öffentliches Amt bekleiden, auch wenn man von neunundvierzig Komma neun Prozent der argwöhnischen Menschen auf der Straße verachtet wird.
In Übersee denken die meisten, die Hauptstadt von Australien sei entweder Sydney oder Melbourne, denn was sie nicht wissen, ist, dass die Dorftrottel in den 195oern ein eigenes Dorf gegründet haben, das sie Canberra nannten. Zu jeder Parlamentssitzung reiste ich mit Caroline in diese öde Stadt, und genau zu dieser Zeit wurde ich (ich kann es selbst kaum glauben) auf einmal dynamisch. Ich war ein Dynamo. Die Lahmärsche in Canberra hatten etwas derart Abstoßendes, dass es mein routinemäßiges, chaotisches Nicht-Fisch-nicht-Fleisch zu einer Vision bündelte. Ich wurde Visionär. Aber warum wurde ich dann nicht mit Mistforken und Ätzkalk davongejagt? Die einfache Antwort darauf: Die Australier schickten fleißig ihre Ein-Dollarmünzen, daher gab es in jeder Woche zwanzig neue Millionäre, und das hatten sie mir zu verdanken. Dieser finanzielle Köder versetzte alle in kollektive Hysterie, die sie empfänglich machte für die Ideen, die nur so aus meinem Mund herausprasselten.
Ich packte alles an: Arbeitslosigkeit, Zinssätze, Tarifverträge, Gleichstellung von Frauen, Kinderbetreuung, Gesundheitsreform, Steuerreform, Verteidigungshaushalt, Ureinwohner, Immigration, Gefängnisse,
Weitere Kostenlose Bücher