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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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Vielleicht hatte er erkannt, dass ich an einem schweren Fall von Hybris erkrankt war und jetzt meine Strafe dafür erhielt. Vielleicht spürte er, dass der Absturz unvermeidbar war. Vielleicht ging er nur in Deckung. Aber warum konnte ich das nicht erkennen? Warum ging ich nicht in Deckung?
    Nachdem in mehreren Leitartikeln Andeutungen gemacht worden waren, ich sei abgehoben, hätte ich das erste Spaceshuttle nehmen sollen, das mich hier hätte rausbringen können. Und als sie mich einer »übermäßigen Eitelkeit« bezichtigten, nur weil ich immer einen Taschenspiegel dabeihatte (tut mir leid, aber wenn die Augen der Nation auf einen gerichtet sind, macht man sich nun mal Sorgen darüber, man könnte etwas zwischen den Zähnen haben), hätte ich wissen müssen, dass ein falscher Schritt von mir genügen würde, das Volk zum Lynchmob werden zu lassen. Ich litt keineswegs an Verfolgungswahn, wie gewisse Personen andeuteten. Nein, ich war keineswegs verrückt nach denen, die mich verfolgten. Wenn überhaupt, muss ich verrückt gewesen sein, sie nicht wahrzunehmen. Hatte ich nicht mein ganzes blödsinniges Leben lang behauptet, dass der ganze Stress, den sich Menschen mit ihren Unsterblichkeitsprojekten antun, genau das ist, was sie schließlich umbringt? Dass die Verdrängung des Todes die Menschen in ein frühes Grab reißt, und dass sie oft genug ihre Lieben mit sich reißen?
    Nicht ein einziges Mal dachte ich an Caroline oder Jasper. Wenn ich einen unverzeihlichen Fehler in meinem Leben gemacht habe, dann war es der, beständig die Augen davor zu verschließen, dass es Menschen gab, die mich womöglich aufrichtig liebten.
     

KAPITEL VIER
    Eines Tages erschien ich an Jaspers Arbeitsplatz. Ich hatte Jasper monatelang nicht gesehen, seit meiner Hochzeit nicht mehr, und seit ich mich in die Fänge der Medizin begeben hatte. Ich hatte ihm noch nicht mal mitgeteilt, dass ich Krebs hatte, und ich dachte, wenn ich es ihm an einem unpassenden Ort wie seinem Arbeitsplatz sagte, könnte ich eine Szene vermeiden. Er saß in seiner Bürozelle und starrte aus dem Fenster, als warte er darauf, dass die Menschen die nächste Stufe der Evolution erklömmen. Als ich ihn so betrachtete, hatte ich seltsamerweise das Gefühl, seine Gedanken lesen zu können. Ich hörte, wie sie in meinem Kopf flüsterten: Wie kommt es, dass wir, nachdem wir das Fell abgeworfen und aufrecht zu stehen gelernt haben, die Entwicklung eingestellt haben, so als wären glatte Haut und eine gerade Haltung das Einzige, worauf es ankommt? »Jasper«, sagte ich.
    Er fuhr herum und blickte mich verächtlich an. »Was machst du denn hier?«
    »Das große K hat mich erwischt.« »Das was?« »Das große Klischee.« »Wovon redest du?«
    »Ich habe Krebs«, sagte ich. »Er hat sich in meinen Lungen eingenistet. Ich bin im Arsch.« Ich versuchte, so gleichgültig zu klingen, als hätte ich schon mein ganzes Leben lang einmal im Monat Krebs und auch jetzt gerade wieder - wie ärgerlich.
    Jasper öffnete den Mund, doch kein Ton kam heraus. Wir bewegten uns nicht. Über uns flimmerte Neonlicht. Der Wind brachte Papiere auf seinem Tisch zum Rascheln. Jasper schluckte. Ich hörte, wie der Speichel seine Speiseröhre hinunterrann. Wir verharrten regungslos. Wir wirkten wie Menschen, bevor sie die Sprache entdeckt hatten, Steinzeitmenschen in einer Bürozelle.
    Schließlich fand er seine Sprache wieder. »Was wirst du dagegen unternehmen?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich.
    Jasper verstand, was die meisten Menschen nicht verstehen: dass Sterbende stets wichtige Entscheidungen zu treffen haben. Ich wusste, dass er wissen wollte, ob ich es bis zum bitteren Ende durchstehen oder die Sache beschleunigen wollte. Und dann sagte er mir, was er besser fände. Ich war gerührt.
    »Bitte stirb nicht langsam und qualvoll, Dad. Bitte bring dich vorher um«, sagte er.
    »Ich spiele mit dem Gedanken«, erwiderte ich knapp, ebenso erleichtert wie verärgert, dass er das Unsagbare ausgesprochen hatte.
    An jenem Abend aßen Jasper, Caroline und ich wie eine normale Familie gemeinsam zu Abend. Wir hätten uns so viel zu sagen gehabt, dass wir gar nichts sagten. Jasper sah mich die ganze Zeit überprüfend an. Er schaute, ob er den Tod auf frischer Tat ertappen könnte. Mittlerweile bin ich mir fast sicher, dass Jasper und ich des anderen Gedanken lesen können, und das ist viel schlimmer als reden.
    Ich lud ihn ein, mit mir ein bisschen im Auto herumzufahren, obwohl ich noch nie im Leben nur

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