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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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Szene war nicht misszuverstehen: Terry versuchte, jemanden zu ertränken.
    Die anderen Spielteilnehmer standen mittlerweile auf dem Rasen wie Fische auf dem Trockenen. Ein entsetzter Erwachsener sprang ins Wasser, zerrte Terry von dem Jungen weg und zog dann beide aus dem Becken, wo die schockierte Mutter des halb Ertrunkenen Terry eine klatschende Ohrfeige gab. Später verteidigte sich Terry vor einem Knäuel empörter Eltern damit, er habe sein Opfer beim Schummeln erwischt.
    »Ich hab nicht geschummelt!«, heulte der andere Junge.
    »Hast du wohl! Dein linkes Auge war auf.«, schrie Terry.
    »Und wenn schon, junger Mann«, sagte mein Vater. »Es ist doch nur ein Spiel.«
    Mein Vater wusste eben nicht, dass für Terry Dean die Formulierung »nur ein Spiel« jeglichen Sinnes entbehrte. Für Terry war das Leben ein Spiel, und Spiele waren immer das Leben. Hätte ich das nicht herausgefunden, hätte ich dieses Wissen auch nicht zur Befriedigung meiner schäbigen Rachegelüste einsetzen können, die das Leben meines Bruders unerwartet in eine andere Richtung lenkten.
    Es ist dies eine der Erinnerungen, bei denen ich mich in Grund und Boden schäme - einer der Augenblicke, in dem sich alle meine Impulse zu einer wahrhaft schändlichen Tat verdichteten. Es passierte nur einen Monat später, als Terry, der jahrelang zwischen seinen Trainingseinheiten Hausunterricht bekommen hatte, schließlich doch eingeschult wurde (ein Moment, vor dem ich gezittert hatte, war es mir doch bisher gelungen, meine spektakuläre Unbeliebtheit in der Schule vor meiner Familie geheimzuhalten). Dave und Bruno Drowning, zweieiige Zwillingsbrüder, hatten mich an einen dicken Ast des Baums hinter der Turnhalle gefesselt. Die beiden waren nicht nur die offiziellen Schulhoftyrannen, sondern auch Diebe, Möchtegern-Kriminelle und Straßenschläger, und ich hatte schon immer gefunden, sie gehörten hinter Gitter oder gerade so tief unter die Erde, dass jeder, der über ihr Grab lief, in ihre kalten, toten Visagen träte. Als Dave und Bruno ihre Knoten festgezurrt hatten, fragte ich: »Woher habt ihr gewusst, dass das mein Lieblingsbaum ist? Mein Gott, diese Aussicht! Einfach herrlich!« Ich setzte meine lässige Tirade fort, als sie vom Baum kletterten. »Ehrlich, Leute«, rief ich, »ihr wisst gar nicht, was ihr versäumt!« Ich zeigte der kleinen Schar, die sich unter dem Baum versammelt hatte, den hochgereckten Daumen.
    Mein eingefrorenes Lächeln schmolz, als ich Terry unten in der Menge sah, der zu mir hochstarrte. Da er ein bewunderter Sportler war, teilte sich die Menge, um ihn durchzulassen. Ich kämpfte gegen die Tränen, hielt mein Gekaspere aber aufrecht. »He, Terry, es ist toll hier. Komm doch zu mir rauf.«
    Er kletterte auf den Baum, setzte sich auf den Ast mir gegenüber und begann, mich loszubinden.
    »Was ist denn da los?«
    »Was meinst du?«
    »Alle hassen dich!«
    »Na gut, ich bin nicht beliebt. Was soll's?« »Und warum hassen dich alle?«
    »Irgendwen müssen sie ja hassen. Und wen sollten sie sonst hassen, wenn nicht mich?«
    Wir blieben den ganzen Nachmittag über im Baum sitzen, geschlagene fünf Stunden, und zwei davon hatte ich akute Höhenangst. Hin und wieder klingelte es, und wir sahen die Schüler von einem Klassenzimmer zum anderen gehen, gehorsam, aber lässig wie Soldaten in Friedenszeiten. Wir sahen ihnen den ganzen Tag zu, ohne dass einer von uns etwas sagte. In diesem Schweigen erschienen all unsere Gegensätze plötzlich belanglos. Dass Terry neben mir auf dem Ast balancierte, war eine ungeheure Geste der Solidarität. Seine Gegenwart sagte mir: Du bist allein, aber nicht ganz allein. Wir sind Brüder, und nichts kann daran etwas ändern.
    Die Sonne wanderte über den Himmel. Faserige Wolken zogen auf schnellen Winden dahin. Ich betrachtete meine Klassenkameraden wie durch eine doppelverglaste, kugelsichere Fensterscheibe und dachte: Wir haben nicht mehr Möglichkeiten, uns zu verständigen, als eine Ameise und ein Stein.
    Auch als um drei die Schule aus war, rührten Terry und ich uns nicht vom Fleck; stumm verfolgten wir eine Partie Kricket, die unter uns gespielt wurde. Bruno und Dave und fünf oder sechs andere Kinder hatten sich in einem Halbkreis aufgestellt, rannten, sprangen und warfen sich in den Dreck, als wäre Zerbrechlichkeit dem menschlichen Körper fremd. Sie brüllten im Crescendo, und manchmal schauten die Zwillinge rauf in den Baum und riefen im Singsang meinen Namen. Ich wand mich bei dem

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