Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
Vom Netzwerk:
sich einer setzen will. Man ist, was man denkt. Wenn du also nicht so werden willst wie dein Vater, darfst du dich nicht von deinen Gedanken in eine Ecke drängen lassen - du musst dich selbst freidenken, und der einzige Weg dazu ist, froh darüber zu sein, dass man nicht weiß, ob man richtig- oder falschliegt, das Spiel des Lebens zu spielen, ohne zu versuchen, die Regeln herauszufinden. Hör auf, über die Lebenden zu urteilen, freu dich über die Sinnlosigkeit, mach dir über Mord keine Gedanken, denk daran, dass fastende Männer am Leben bleiben, die Hungernden aber sterben, lach, wenn deine Illusionen zerbrechen, und vor allem, sei dankbar für jede einzelne Minute dieser verdammten Zeit in der Hölle.«
    Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Ich dankte ihm, umarmte ihn ein letztes Mal und ging an Bord.
    Als wir in einer dichten Wolke schwarzen Dieselrauchs ablegten, winkte ich Terry zum Abschied zu, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte. Ich sah nach Dad, ob er traurig darüber war, seinen Bruder nie wiederzusehen, und stellte fest, dass er in die entgegengesetzte Richtung starrte, zum Horizont, mit einem optimistischen Lächeln, das nun wirklich fehl am Platz war.
     

IV
    Dieser grauenvolle Ozean! So viele Wochen lang!
    Es schien ausgeschlossen zu sein, dass der Kapitän das Schiff unter Kontrolle bringen konnte. Große Brecher bedrohten uns von allen Seiten. Der Kutter wurde fürchterlich hin und her geworfen. Es kam einem vor, als stampfe das Boot nicht nur auf und ab, sondern schlingere und drehe sich in verrückten Kreisen.
    Unter Deck waren die Bullaugen zugeschweißt und mit schwarzem Teer überstrichen. Der Boden war mit verdreckter Pappe ausgelegt, und die Passagiere schliefen auf Matratzen, so dünn wie Zeitungspapier. Ich weiß noch, wie man mir bei meiner Ankunft in Thailand gesagt hatte, ich solle meine Füße niemals so halten, dass sie auf den Kopf eines anderen zeigten. Hier, auf diesem engen Raum, waren die Menschen so zusammengepfercht, dass man mit den Füßen nicht nur auf Fremde zeigte, sondern sie ihnen direkt ins Gesicht hielt, tagaus, tagein. Dad und ich waren in einen engen Winkel gequetscht, eingeklemmt zwischen wuchtigen Reissäcken und einer kettenrauchenden Familie aus dem Süden Chinas.
    In diesem heißen und schweißtreibenden Käfig war der einzige Sauerstoff, den wir einatmeten, schon von anderen Passagieren ausgeatmet worden. Unter Deck zu sein hieß, in einem Albtraum zu leben. Der Druck von ausgemergelten Leibern und Gliedmaßen war unerträglich, vor allem in der erdrückenden Dunkelheit, wenn sich die Stimmen - eigentümliche, durchdringende, raue Laute - zu Gesprächen formten, von denen wir ausgeschlossen blieben. Wollte man nach draußen, um Luft zu schnappen, hieß das nicht, dass man sich an Menschen vorbeibewegte, sondern dass man gnadenlos von einem Ende des Schiffsrumpfes zum anderen gerempelt und gestoßen wurde.
    Manchmal schliefen Dad und ich auf dem harten, zerfurchten Deck, und unsere Kissen waren nasse, schwere Taurollen, verkrustet vom Morast diverser Meeresböden. Aber da oben war es auch nicht viel besser; die Tage waren unerträglich heiß, es regnete fortwährend, und wer hätte gedacht, dass es Moskitos so weit hinaus auf die offene See schaffen? Sie malträtierten uns unermüdlich. Und mit unseren an Gott gerichteten Flüchen kamen wir kaum an gegen das laute Wummern der Schiffsmaschine, die unaufhörlich Wolken von schwarzem Rauch ausstieß.
    Nachts lagen wir da und starrten in den Himmel, in dem Sterne schwammen, die bei dem ganzen Schluchzen, Schreien und delirierenden Heulen, das vornehmlich von Dad kam, eine irgendwie bedrohliche Gestalt annahmen.
    Krebs im Endstadium, das ist nicht angenehm. Dad war orientierungslos, delirierte, hatte rasende, pochende Kopfschmerzen, Schwindelanfälle, er sprach undeutlich, hatte Phasen, in denen er verwirrt war, Brechreiz, Erbrechen, Zittern, Schweißausbrüche, unerträgliche Muskelschmerzen, war extrem schwach und schlief einen komaähnlichen Schlaf. Er ließ sich von mir aus einem Pillenfläschchen mit unleserlichem Etikett füttern. Es seien Opiate, meinte er. So waren Dads diverse Unsterblichkeitsprojekte also einem wichtigeren Sterblichkeitsprojekt gewichen: dem Sterben unter möglichst wenig Schmerzen.
    Eigentlich wollte keiner diesen kranken Mann an Bord haben. Sie alle wussten, dass diese Reise Kraft und Ausdauer erforderte, und abgesehen davon ist ein Sterbender ein schlechtes Omen, egal,

Weitere Kostenlose Bücher