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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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welcher Religion man angehört. Vielleicht war das der Grund dafür, warum die Flüchtlinge nur ungern ihre Vorräte mit uns teilten. Und es war nicht allein Dads Gesundheitszustand, der sie beunruhigte - wir verströmten das Miasma der Andersartigkeit. Sie wussten, dass wir Australier waren, die einen enormen Betrag bezahlt hatten, um illegal in ihr eigenes Land einzureisen. Das konnten sie einfach nicht begreifen.
    Eines Nachts an Deck wurde ich durch eine Stimme geweckt, die brüllte: »Was wollt ihr hier?« Ich schlug die Augen auf und sah den Kapitän des Schiffes über uns stehen, eine Zigarette im Mund. Sein Gesicht war ein Groschenroman, den zu lesen mir die Kraft fehlte. »Ich glaub nicht, dass er schafft«, fuhr er fort und stupste Dad mit dem Fuß in den Bauch. »Vielleicht wir ihn schmeißen über Bord.«
    »Vielleicht schmeiß ich dich über Bord«, sagte ich.
    Einer der Flüchtlinge erhob sich hinter mir und schnauzte den Kapitän in einer Sprache an, die ich noch nie gehört hatte. Der Kapitän verzog sich. Ich drehte mich um. Der Flüchtling war etwa in meinem Alter und hatte schöne Augen, die viel zu groß für sein ausgezehrtes Gesicht waren. Er hatte langes, gewelltes Haar und lange geschwungene Wimpern. Alles an ihm war lang und gewellt.
    »Die sagen, ihr seid Australier«, sagte er. »Das stimmt.«
    »Ich würde gerne einen australischen Namen annehmen. Fällt dir vielleicht einer für mich ein?« »Okay. Klar. Wie war's mit... Ned?« »Ned?« »Ned.«
    »Gut. Ich bin jetzt Ned. Würdest du mich bitte bei meinem neuen Namen rufen und gucken, ob ich mich umdrehe?« »Okay.«
    Ned wandte sich von mir ab, und ich rief, um ihn zu testen: »Shane!« Er fiel nicht darauf rein. Anschließend versuchte ich es noch mit Bob, Henry, Frederick und Hotpants2i, aber er zuckte nicht mal mit der Wimper. Dann rief ich »Ned!«, und er fuhr mit breitem Grinsen herum.
    »Danke sehr«, sagte er höflich. »Darf ich dich etwas fragen?«
    »Immer raus damit.«
    »Warum seid ihr hier? Wir fragen uns das alle.«
    Ich sah mich um. Weitere Flüchtlinge waren unter Deck hervorgekommen, um ihre verdreckten Lungen in der Nachtluft zu reinigen. Dad schwitzte und fieberte, und Ned hielt mir einen nassen Lappen hin.
    »Darf ich?«, fragte er.
    »Nur zu.«
    Ned presste den nassen Lappen auf Dads Stirn. Dad ließ einen langen Seufzer hören. Unsere Mitreisenden riefen Ned gellende Fragen zu, und er brüllte zurück und winkte sie dann herbei. Sie schlurften näher, umringten uns und feuerten Salven von gebrochenem Englisch auf uns ab. Diese seltsamen Komparsen, die in letzter Sekunde zu einem Gastauftritt im Epilog eines Menschenlebens aufgerufen wurden, wollten verstehen.
    »Wie heißen Sie?«, fragte Ned Dad.
    »Ich bin Martin. Das da ist Jasper.«
    »Und, Martin, warum reisen Sie auf diese Weise nach Australien?«, fragte Ned.
    »Ich bin dort unerwünscht«, antwortete Dad schwach. »Was haben Sie getan?«
    »Ich habe ein paar schlimme Fehler begangen.«
    »Getötet?«
    »Nein.«
    »Vergewaltigt?«
    »Nein. Es ist nichts dergleichen. Es war eine... finanzielle Indiskretion.« Er zuckte zusammen. Wenn Dad doch bloß vergewaltigt und gemordet hätte. Diese Verbrechen wären sein Leben, und möglicherweise auch meines, wenigstens wert gewesen.
    Ned übersetzte die Formulierung »finanzielle Indiskretion« für die anderen, und wie aufs Stichwort teilte sich der dicke Wolkenvorhang, und Mondlicht fiel auf ihre verständnislosen Gesichter. Während ich beobachtete, wie sie uns beobachteten, fragte ich mich, ob sie auch nur die geringste Vorstellung davon hatten, was sie in Australien erwartete. Ich nahm an, sie wussten, dass sie ein Leben in der Illegalität führen würden, ausgebeutet in Bordellen, Fabriken, auf Baustellen, in Restaurantküchen und von der Modeindustrie, für die sie nähen würden, bis ihre Finger nur noch Knochen wären. Aber ich bezweifelte, dass sie wussten, was für ein pubertärer Wettstreit zwischen den Parteiführern darüber tobte, wer die repressivste Einwanderungspolitik betrieb, Typen, denen man nicht in einer dunklen Gasse begegnen wollte. Oder dass die öffentliche Meinung bereits gegen sie war, denn selbst wenn man um sein Leben rennt, muss man sich immer hinten anstellen, oder dass (nicht nur) Australien sich besonders gut darauf verstand, willkürlich gesetzte Unterschiede zwischen Menschen für wichtig zu erachten.
    Und selbst wenn sie es wüssten, bliebe ihnen keine Zeit, darüber

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