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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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nachzudenken. Diese Reise zu überleben, war das einzig Wichtige, und leicht würde das nicht werden. Die Lage verschlechterte sich kontinuierlich. Die Vorräte schwanden. Wind und Regen peitschten auf das Boot ein. Riesige Wellenberge brachten uns immer wieder fast zum Kentern. Oft durften wir die Reling nicht loslassen, wenn wir nicht über Bord gespült werden wollten. Wir fühlten uns Australien nicht näher als am Tag unserer Abfahrt, und es fiel uns schwer zu glauben, dass unser Heimatland noch existierte oder überhaupt irgendein Land. Der Ozean wurde immer größer. Er bedeckte die ganze Welt. Auch der Himmel wurde größer - er wölbte sich höher und höher, war bis zum Zerreißen gespannt. Unser Schiff war das kleinste Gebilde der Schöpfung, und wir waren unendlich winzig. Hunger und Durst ließen uns noch mehr schrumpfen. Die Hitze war ein Ganzkörper-Fatsuit, den wir alle gemeinsam trugen. Viele von uns zitterten vor Furcht. Ein- oder zweimal sahen wir Land, und ich brüllte dem Kapitän ins Ohr: »Legen wir dort an, um Himmels willen!«
    »Das ist nicht Australien.«
    »Na und? Es ist Land! Fester Boden! Dort können wir nicht ertrinken!«
    Wir fuhren weiter, pflügten unsere schaumige Spur durch einen Ozean, der vor feindseligen Absichten schäumte.
    Es ist erstaunlich, wie gelassen das sterbende menschliche Tier in solch einem Chaos sein kann. Ich hätte das nie für möglich gehalten. Ich hätte erwartet, dass wir uns gegenseitig das Fleisch von den Knochen reißen und das Blut unserer Gefährten trinken würden, aber nichts dergleichen geschah. Dazu waren alle viel zu müde. Sicher, es wurde geweint, und es herrschte auch hinreichend bittere Verzweiflung, aber es war eine schwermütige, eine stumme, bittere Verzweiflung. Wir waren winzige, zusammengeschrumpfte Geschöpfe, zu schwach für jedwede Art von ernsthaftem Protest.
    Dad lag die meiste Zeit bewegungslos an Deck; er sah aus wie ein gruseliges Stofftier, das man Kindern an Halloween schenkt.
    Ich strich ihm sanft über die Stirn, aber er brachte gerade noch genug Energie auf, um mich wegzuscheuchen.
    »Ich sterbe«, sagte er verbittert.
    »Noch ein paar Tage, und ich sterbe auch«, sagte ich, um ihn aufzuheitern.
    »Das tut mir leid. Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht mitkommen«, sagte er, und wusste ganz genau, dass das nicht stimmte.
    Dad versuchte, sich reumütig zu geben, weil er mein Schicksal selbstsüchtig an das seine gekettet hatte. Doch ich wusste es besser. Ich wusste etwas, das er niemals zugeben würde: dass er seine alte, kranke Wahnvorstellung, ich sei seine verfrühte, noch zu seinen Lebzeiten erfolgte Wiedergeburt, nie wirklich losgeworden war. Also glaubte er, dass er nach seinem Tod vielleicht doch weiterleben würde.
    »Ich sterbe, Jasper«, sagte er wieder.
    »Herrgott noch mal, Dad! Sieh dich um! Alle liegen hier im Sterben! Wir alle werden sterben!«
    Das ärgerte ihn maßlos. Er war stocksauer, dass sein Tod nicht als tragischer Einzelfall betrachtet werden würde. Als einer unter vielen, als bloße Nummer zu sterben, war ein Stachel in seinem Fleisch. Vor allem aber ging ihm das permanente Beten auf die Nerven. »Ich wünschte, diese Idioten würden endlich die Klappe halten«, sagte er.
    »Das sind gute Menschen, Dad. Wir sollten stolz darauf sein, gemeinsam mit ihnen zu ertrinken.«
    Blödsinn. Ich redete totalen Quatsch. Aber Dad war fest entschlossen, die Welt in streitsüchtiger Laune zu verlassen, und es gab nichts, was ich daran ändern konnte. Obwohl sein Leben schon gepackt, sein Reisepass ins Jenseits bereits abgestempelt war, verwarf er die Welt des Religiösen zum x-ten Mal.
    Wir waren die Einzigen, die nicht beteten, und die positive Einstellung der Flüchtlinge beschämte Dad und mich zutiefst. Sie waren immer noch der Überzeugung, dass Wunderbares in der Luft lag. Sie waren ganz ausgelassen in ihrem ekstatischen Eskapismus, glückselig, denn ihre Götter waren nicht von der innerlichen Sorte, die einem bei dieser handfesten Krise nicht helfen konnten; ihre Götter waren von altem Schlag, von der Sorte, die die gesamte Natur nach den Wünschen des Einzelnen lenkt. Was für ein Dusel! Ihre Götter hörten den Menschen tatsächlich zu und griffen manchmal sogar zu ihren Gunsten ein. Ihre Götter verteilten persönliche Gefälligkeiten! Hier zählte Vitamin B! Deswegen hatte ihre Lebenswirklichkeit nichts von dem kalten Schrecken der unseren: Wir konnten uns keinen Riesendaumen und den

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