Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
Vom Netzwerk:
entsprechenden Zeigefinger vorstellen, die aus dem Himmel herabgreifen und uns auflesen würden, um uns an einem sicheren Ort wieder abzusetzen.
    Ich pflegte Dad wie in einer Art Trance. Er lag in der Dunkelheit, entwarf zahllose Ideen, das Leben betreffend und wie man es leben sollte. Sie waren eine Spur wirrer und kindischer als seine üblichen Tiraden, und ich begriff, dass man, wenn man fällt, nur noch an sich selbst Halt finden kann. Wenn er redete, tat ich so, als würde ich zuhören. Wenn er schlafen wollte, schlief ich auch. Wenn Dad stöhnte, gab ich ihm Schmerzmittel. Mehr konnte ich nicht tun.
    Seine abwesenden Augen waren abwesender als je zuvor. Ich wusste, er dachte an Caroline. »Martin Dean - was für ein Vollidiot er doch war!«, sagte er. Es tröstete ihn etwas, über sich selbst in der dritten Person und der Vergangenheitsform zu sprechen.
    Manchmal verschaffte Ned mir eine kleine Pause. Er nahm dann meinen Platz ein, gab Dad zu trinken und übernahm die Aufgabe, so zu tun, als würde er Dads endlosem Gerede zuhören. Ich kletterte derweil über die Leiber meiner halb bewusstlosen Reisegefährten an Deck, um etwas frische Luft zu schnappen. Über mir klaffte der Himmel wie ein eingeschlagener Schädel. Die Sterne glitzerten wie Schweißperlen. Ich war wach, doch meine Sinne träumten. Mein eigener Schweiß schmeckte nach Mango, dann nach Schokolade, dann nach Avocado. Was für ein Desaster! Dad starb zu langsam und zu schmerzhaft. Warum brachte er sich nicht einfach um? Warum setzten sich gestandene Atheisten so einem sinnlosen Todeskampf aus? Worauf wartete er?
    Plötzlich fiel es mir wieder ein. Das Gift!
    Ich rannte hinunter, kletterte über die menschliche Matratze und flüsterte ihm aufgeregt ins Ohr: »Willst du das Gift?«
    Dad setzte sich auf und schaute mich an. Sein Blick glühte. Der Tod kann kontrolliert werden, jubelten seine Augen. Der Gedanke an das Gift hatte unsere Lebenskräfte neu aufgeladen.
    »Morgen bei Tagesanbruch«, sagte er. »Wir tun es gemeinsam.«
    »Dad - ich werde das Gift aber nicht nehmen.«
    »Nein, natürlich nicht. Ich meinte nicht, dass du es auch nehmen sollst. Ich meinte bloß, dass ich es nehme und du aufpassen wirst.«
    Armer Dad. Die Einsamkeit hatte er schon immer gehasst, und nun war er mit der profundesten, geballtesten Form von Einsamkeit konfrontiert, die es gibt.
    Aber am nächsten Morgen regnete es, und bei Regenwetter wollte er nicht Selbstmord begehen.
    Als der Regen aufhörte, war es schon zu heiß, um Schluss zu machen.
    Und in der Nacht wollte er seinen letzten Atemhauch lieber im Licht der Sonne tun.
    Kurzum, er war nie bereit. Er schwankte unentwegt, fand ständig neue Ausreden: zu regnerisch, zu bewölkt, zu sonnig, zu kabbelige See, zu früh, zu spät.
    Und so vergingen zwei oder drei Tage der Agonie.
     
    Es passierte schließlich eines Abends nach etwa zwei oder drei Wochen auf See. Eine Gischtwoge schlug unter Deck. Wir wären fast ertrunken. Das Kreischen nützte gar nichts. Als das Meer sich beruhigt hatte, setzte Dad sich in der Finsternis auf. Er hatte plötzlich Schwierigkeiten beim Atmen. Ich gab ihm noch etwas zu trinken.
    »Jasper, ich glaube, jetzt ist es so weit.«
    »Woher weißt du das?«
    »Ich weiß nicht. Ich war immer skeptisch, wenn in Filmen die Leute wissen, wann ihre Zeit gekommen ist, aber es stimmt. Der Tod klopft an. Er tut es tatsächlich.«
    »Kann ich irgendetwas tun?«
    »Bring mich nach oben, warte, bis ich tot bin, und stoß mich dann über Bord.«
    »Ich dachte, du wolltest kein Seemannsgrab.«
    »Will ich auch nicht, aber diese Mistkerle starren mich an, als wäre ich ein großes Lammkotelett.«
    »Der Krebs hat dich nicht gerade appetitlicher gemacht.«
    »Widersprich mir nicht. Wenn ich erst mal tot bin, will ich nicht eine Minute länger auf diesem Boot bleiben.«
    »Verstanden.«
    Die Flüchtlinge ließen uns keinen Moment aus den Augen. Sie redeten leise und verschwörerisch miteinander, während Ned mir half, Dad an Deck zu schaffen.
    Oben fiel ihm das Atmen leichter. Die Pazifikluft schien ihm gutzutun. Der gewaltige Rhythmus des Ozeans besänftigte ihn. Na ja, zumindest stelle ich mir das so vor. Es waren seine letzten Minuten, und ich würde gerne denken, dass er sich am Schluss doch noch mit der Tatsache seiner kosmischen Nebensächlichkeit versöhnt hatte, dass er zuletzt etwas Skurriles darin sah, rein gar nichts zu bedeuten, dass es in gewisser Weise für ihn sogar amüsant war, nicht mehr als

Weitere Kostenlose Bücher