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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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ein Irrläufer in der erschreckenden Einöde von Raum und Zeit zu sein. Das war meine Hoffnung - dass er sich angesichts des majestätischen Ozeans mit der Idee anfreunden könnte, das Schauspiel der Schöpfung sei doch ein zu großes Drama, als dass man darauf hoffen konnte, darin eine tragende Rolle zu spielen. Aber nein, er relativierte seine eigene Existenz nicht im Geringsten - er blieb unversöhnlich bis zuletzt. Er ging als Märtyrer für seine geheime Sache in den Tod, nicht bereit, sich selbst zu verraten.
    Ich bezeuge seine letzten Minuten wie ein Biograf, der seinem Gegenstand zu nahe ist.
    Die Nacht war still, abgesehen vom Knarren des Bootes und dem sanften Klatschen der Wellen. Der Mond stand strahlend über dem Horizont. Wir fuhren direkt darauf zu. Der Kapitän steuerte uns in den Mond. Ich stellte mir vor, wie sich eine Luke für uns auftun würde und wir hindurchglitten. Ich stellte mir vor, wie die Luke hinter uns wieder zuschlug und ein irres Lachen erklang. Ich stellte mir diese Dinge vor, um mich von der Wirklichkeit, dem Tod meines Vaters, abzulenken.
    »Dort, Martin, der Mond«, sagte Ned. »Wie an den Himmel gemalt. Gott ist ein wahrer Künstler.«
    Das gab Dad noch einmal Auftrieb. »Das will ich um unser aller willen nicht hoffen«, sagte er. »Im Ernst, Ned, hast du schon mal einen Künstler kennengelernt? Das sind keine netten Menschen. Das sind egoistische, narzisstische und bösartige Typen, die den lieben langen Tag selbstmörderischen Depressionen nachhängen. Erklär's ihm, Jasper.«
    Ich seufzte; ich kannte seinen Sermon in- und auswendig. »Künstler sind Menschen, die ihre Geliebten betrügen, ihre eigenen Kinder im Stich lassen und alle, die das Pech haben, sie zu kennen, für ihre Hilfsbereitschaft schrecklich leiden lassen«, erklärte ich.
    Dad hob den Kopf, um noch hinzuzufügen: »Und du nennst Gott auch noch stolz einen Künstler und erwartest, dass er sich um dich kümmert? Na dann, prost Mahlzeit!«
    »Ihnen fehlt der Glaube.«
    »Hast du dich je gefragt, warum dein Gott den Glauben braucht? Liegt das daran, dass es im Himmel nur eine begrenzte Zahl an Plätzen gibt und die Voraussetzung des Glaubens Gottes Methode ist, die Besucherzahl niedrig zu halten?«
    Ned schaute ihn mitleidsvoll an, schüttelte den Kopf und schwieg.
    »Dad, lass es gut sein.«
    Ich gab ihm noch ein paar Schmerztabletten. Nachdem er sie geschluckt hatte, rang er nach Luft und verlor die Besinnung. Zehn Minuten später begann er, vor sich hin delirierend zu zetern.
    »Hunderte... Millionen... von Christen... frohlocken... dass der Himmel... ein schickes Hotel ist, wo... sie an der Eismaschine nicht auf Moslems oder Juden treffen... Muslime und Juden... auch nicht besser... starre Meinung... der moderne Mensch... gute Zähne... geringe Aufmerksamkeitsspanne... sollte eigentlich ... Aufruhr der Entfremdung... keine religiöse Weltsicht... Neurose... Wahnsinn... nicht wahr... immer religiöse Vorstellungen bei Geschöpfen... die... sterben.«
    »Sparen Sie Ihre Kraft«, sagte Ned. Er hätte auch sagen können: »Halt die Klappe«, und ich hätte ihm keinen Vorwurf gemacht.
    Dads Kopf fiel nach hinten, in meinen Schoß. Ihm blieben vermutlich nur noch ein paar Minuten, und er konnte es immer noch nicht fassen.
    »Das ist wirklich unglaublich«, sagte er und holte tief Luft. Ich sah an seinem Gesicht, dass die Schmerzmittel anschlugen.
    »Ich weiß.«
    »Im Ernst! Tod! Mein Tod!«
    Er fiel ein paar Minuten in Schlaf, dann sprangen seine Augen wieder auf, der Blick so ausdruckslos wie bei einem Bürokraten.
    Ich glaube, er versuchte sich einzureden, dass der Tag, an dem er starb, nicht der schlimmste Tag seines Lebens war, sondern nur ein durchschnittlicher, nicht Fisch, nicht Fleisch. Er schaffte es aber nicht und stöhnte erneut mit zusammengebissenen Zähnen.
    »Jasper.«
    »Ich bin hier.«
    »Tschechow glaubte, dass der Mensch besser wird, wenn man ihm zeigt, was er ist. Ich glaube nicht, dass sich das als richtig erwiesen hat. Es hat ihn nur noch trauriger und einsamer gemacht.«
    »Hör zu, Dad - setz dich nicht dem Druck aus, dass deine letzten Worte tiefschürfend sein müssen. Geh es einfach locker an.«
    »Ich hab in meinem Leben ganz schön was zusammengefaselt, oder?«
    »Es war nicht alles Gefasel.«
    Dad atmete ein paarmal keuchend, während seine Augen herumrollten, als suchten sie irgendetwas im hintersten Winkel seines Schädels.
    »Jasper«, röchelte er, »ich muss dir etwas

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