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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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Kursen stahl. Anfangs kauerte ich mich zum Schreiben hinter die Zellentür, doch schon bald wurde mir klar, dass sie bei all den Hungerstreiks, Selbstmordversuchen und Aufständen von mir kaum Notiz nahmen. Sie hielten mich schlicht für depressiv; man durfte, ja, man wurde geradezu dazu ermutigt, in seiner Zelle Trübsal zu blasen. In ihren Augen war ich nur ein armseliges, unerwünschtes Rätsel, das sich keiner anstrengte zu lösen.
    Als Ned eine der begehrten vorläufigen Aufenthaltsgenehmigungen erhielt, bedrängte er mich hartnäckig, doch meine Staatsbürgerschaft zuzugeben. Am Tag seiner Entlassung bekniete er mich, mit ihm zu kommen. Warum tat ich es nicht? Was tat ich an diesem scheußlichen Ort? Vielleicht fand ich es einfach spannend: Man wusste nie, wann sich der Nächste die Pulsadern aufschneiden, Reinigungsmittel oder Steine schlucken würde. Außerdem gab es während meiner Internierung drei prächtige Aufstände; ein ungestümer Wutausbruch trieb die Flüchtlinge dazu, Unmögliches zu versuchen, etwa die Zäune niederzureißen. Doch dann wurden sie von den kräftigen Händen der Wachen zurückgezerrt. Nachdem die letzte Revolte niedergeschlagen worden war, ließen die Behörden stärkere Mauern und einen elektrischen Zaun errichten. Ich musste an Terrys Worte denken, dass die Habenichtse beginnen würden, sich zu organisieren. Ich wünschte, sie würden sich damit beeilen.
    Dann und wann versuchte ich, mir einzureden, dass es der ultimative Ausdruck meines Protestes gegen die Politik der Regierung sei, in diesem Lager zu sitzen, doch damit machte ich mir nur etwas vor. Die Wahrheit war, dass mich Dads nicht mehr vorhandene Existenz zu Tode ängstigte. Es war eine Art von Alleinsein, an die ich mich erst gewöhnen musste. Ich versteckte mich hier drin, schreckte davor zurück, den nächsten Schritt zu tun. Ich wusste, dass es falsch, schamlos und feige war, hierzubleiben. Doch ich konnte nicht anders.
    Wie üblich tauchte Gott in vielen Gesprächen auf. Den Wachen gegenüber verkündeten die Flüchtlinge unentwegt Dinge wie: »Gott ist groß«, »Gott wird dich strafen« oder: »Warte, bis Gott hiervon Wind kriegt«. Angewidert davon, wie mit den Flüchtlingen hier und auch in ihren Heimatländern umgegangen wurde, stellte ich Betrachtungen über den traurigen Mangel an Mitgefühl in der Welt an und wandte mich eines Nachts an diesen ihren Gott. »He!«, sagte ich. »Wie kommt es, dass du nie sagst >Wenn ich noch einmal sehe, dass ein Mensch einen anderen quält, ist die Sache gelaufen. Dann mach ich Schluss damitWenn noch einmal ein Mensch vor Schmerz schreit, weil ein anderer ihn zu Boden drückt, zieh ich den Stecker raus    All das sagte ich Gott, aber danach herrschte ein so tiefes Schweigen, ein so frostiges Schweigen, dass es mir die Kehle zuschnürte, und ich hörte mich selbst plötzlich flüstern: »Es ist Zeit.« Genug war genug. Es geschah im Englischkurs, in einem kleinen, hellen Raum mit u-förmig angeordneten, langen Tischen. Wayne, der Lehrer, stand vorne an der Tafel und erklärte der Klasse den richtigen Gebrauch der Satzglieder. Die Schüler waren still, aber nicht aus Respekt: Es war das verwirrte Schweigen von Menschen, die keine klare Vorstellung von dem hatten, was man ihnen da eigentlich beibringen wollte.
    Ich stand auf. Wayne starrte mich an, als bereite er sich darauf vor, seinen Gürtel aus der Hose zu ziehen und mich damit auszupeitschen. Ich fragte: »Warum machen Sie sich eigentlich die Mühe, uns den Satzbau beizubringen? Den werden wir doch gar nicht brauchen.«
    Er wurde blass und legte den Kopf in den Nacken, als sei ich gerade einen Meter größer geworden. »Du sprichst Englisch«, erklärte er dümmlich.
    »Deuten Sie das nicht falsch, das ist kein Beweis für die Qualität ihrer Lehre«, sagte ich.
    »Du hast einen australischen Akzent«, stellte er fest.
    »Ja, Alter. Und jetzt sag diesen Pennern, sie sollen herkommen. Ich hab ihnen was mitzuteilen.«
    Wayne riss die Augen auf, dann verschwand er mit einem völlig übertriebenen Satz aus dem

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