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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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hinzubiegen! Ich finde, er ist, wie er sein soll! Er ist verliebt!«
    Niemand schenkte mir Beachtung. Caroline und ich standen nebeneinander, während sie Terry in die Nervenklinik verschleppten. Ungläubig starrte ich auf meine Eltern, auf ihre unerbittliche Halbherzigkeit. Ich konnte nur noch hilflos die geballte Faust schütteln und denken, wie unfassbar es war, mit welcher Bereitwilligkeit sich Menschen zu Sklaven machen ließen. Du lieber Himmel. Manchmal haben sie es so eilig, ihre Freiheit wegzuwerfen, als wäre sie eine heiße Kartoffel.
     

TRANSZENDENZ
    Nicht dass Wahnsinn direkt ansteckend ist (auch wenn es in der Menschheitsgeschichte genug Beispiele für Massenhysterie gibt - etwa die Zeit, als man in der westlichen Hemisphäre ausnahmslos weiße Slipper ohne Socken trug), aber kaum war Terry im Irrenhaus verschwunden, wurde es in unserem Zuhause ebenfalls finster, angefangen bei meinem Vater, der nach einer Woche wieder zu Verstand kam und alles Menschenmögliche tat, um Terry wieder rauszuholen, und dabei feststellen musste, dass die mit der Betreuung des Eingewiesenen Beauftragten die Betreuung ebenso ernst nahmen wie das Geld, das die Regierung ihnen fürs Betreuen bezahlte. Mein kleiner Bruder wurde als Gefahr für sich selbst und andere eingestuft - wobei mit »die anderen« in erster Linie das Klinikpersonal gemeint war, mit dem er sich bei seinen Ausbruchsversuchen herumschlug. Mein Vater stellte gerichtliche Anträge und konsultierte zahllose Rechtsanwälte, merkte jedoch schnell, dass er seinen Sohn im Gewirr der Bürokratie verloren hatte. Er kam nicht weiter. Das Ergebnis war, dass er immer mehr trank, und auch wenn meine Mutter und ich versuchten, seinen Absturz zu verlangsamen - jemanden, der sich mit der Rolle des Alkoholikervaters angefreundet hat, kann man nicht einfach davon abbringen, indem man ihn darauf hinweist, wie klischeehaft das ist. In den Monaten nach Terrys Einweisung verlor er zweimal die Beherrschung und drosch auf meine Mutter ein, schlug sie zu Boden, aber genauso wenig, wie man einem Mann den Hang zu häuslicher Gewalt abgewöhnen kann, kann man eine Frau dazu bringen, aus ihrem eigenen Zuhause wegzulaufen, indem man ihr das Battered-Wife-Syndrom attestiert. Es führt einfach zu nichts.
    Wie mein Vater oszillierte auch meine Mutter zwischen Irresein und Trauer. Einige Nächte nachdem Terry fortgebracht worden war, machte ich mich gerade fertig fürs Bett und sagte laut: »Vielleicht putze ich mir heute nicht die Zähne. Warum sollte ich auch? Scheiß auf die Zähne. Ich hab die Schnauze voll von Zähnen. Ich kann meine Zähne nicht mehr sehen und die von anderen Leuten auch nicht. Zähne sind nur lästig, und ich hab keine Lust mehr, sie jeden Abend zu wienern, als wären es die Kronjuwelen.« Als ich meine Zahnbürste angewidert hinwarf, sah ich vor der Badezimmertür eine Silhouette. »Hallo?«, sagte ich zu dem Schatten. Meine Mutter kam herein und stellte sich hinter mich. Unsere Blicke trafen sich im Badezimmerspiegel.
    »Du führst Selbstgespräche«, sagte sie und legte mir die Hand auf die Stirn. »Hast du Fieber?« »Nein.«
    »Etwas warm«, sagte sie.
    »Ich bin ein Säugetier«, nuschelte ich. »So sind wir nun mal.« »Ich geh zur Apotheke und hol dir was«, erklärte sie. »Aber ich bin nicht krank.«
    »Du wirst nicht krank, wenn wir schnell was dagegen tun.«
    »Was wogegen tun?«, fragte ich und blickte ihr forschend ins traurige Gesicht. Auf die Tatsache, dass ihr anderer Sohn ins Irrenhaus gekommen war, reagierte meine Mutter mit krankhafter Sorge um mein Wohlergehen. Es kam nicht schleichend, sondern schlagartig, und ich merkte es daran, dass ich ihr nicht einmal mehr auf der Treppe begegnen konnte, ohne dass sie mich in den Arm nahm und beinahe erdrückte. Ich kam auch nicht mehr aus dem Haus, ohne dass sie mir die Jacke bis oben hin zuknöpfte, und wenn trotzdem noch ein Stückchen Hals den Elementen ausgesetzt war, nähte sie einen zusätzlichen Knopf an, sodass ich immer bis zur Unterlippe vermummt war.
    Sie fuhr jeden Tag in die Stadt, um Terry zu besuchen, und kehrte stets mit guten Nachrichten heim, die sich irgendwie wie schlechte anhörten.
    »Es geht ihm ein bisschen besser«, sagte sie mit sorgenvoller Stimme.
    Ich kam bald dahinter, dass es lauter Lügen waren. Mir hatte man verboten, die Klinik zu besuchen, weil man annahm, meine sensible Psyche könnte dadurch Schaden nehmen. Aber Terry war mein Bruder, also mimte ich eines Morgens den

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