Vatermord und andere Familienvergnuegen
fand sogar den Weg zu uns nach Hause, um uns seinen Befund mitzuteilen. Wir saßen alle gemeinsam im Wohnzimmer beim Tee, während er erzählte, was er in Terrys Oberstübchen gefunden hatte.
»Terry hat es mir leicht gemacht, wesentlich leichter als die meisten meiner Patienten, weniger aufgrund seiner Selbsterkenntnis, mit der es, ehrlich gesagt, nicht weit her ist, sondern wegen seiner Aufrichtigkeit und absoluten Bereitschaft, jede Frage, die ich ihm stellte, ohne Zögern oder Umschweife zu beantworten. Man könnte fast sagen, er ist der freimütigste Patient, der mir je untergekommen ist. Ich möchte Ihnen jetzt schon meine Bewunderung aussprechen, dass Sie einen durch und durch aufrichtigen und offenen Menschen großgezogen haben.«
»Er ist also nicht wahnsinnig?«, fragte mein Vater.
»Oh, verstehen Sie mich nicht falsch. Er ist völlig verrückt. Aber aufrichtig!«
»Wir sind keine Menschen, die handgreiflich werden«, sagte mein Vater. »Das Ganze ist uns ein Rätsel.«
»Kein Mensch ist ein Rätsel. Glauben Sie mir, selbst im anscheinend chaotischsten Schädel finden sich Struktur und Ordnung. Es scheint zwei Erfahrungen in Terrys Leben zu geben, die ihn mehr als alles andere geprägt haben. Die erste hätte ich ihm nicht abgenommen, wäre ich nicht felsenfest überzeugt von der völligen Offenheit des Jungen.« Der Arzt beugte sich vor und fragte beinahe im Flüsterton: »Hat er tatsächlich die ersten vier Jahre seines Lebens mit einem im Koma liegenden Jungen in einem Zimmer geschlafen?«
Meine Eltern sahen einander erschrocken an.
»War das falsch?«, fragte meine Mutter.
»Wir hatten nicht genug Platz«, erklärte mein Vater gereizt. »Wo hätten wir Martin denn unterbringen sollen? Im Schuppen?«
»Terry hat das Szenarium so lebendig beschrieben, dass es mir tatsächlich eiskalt den Rücken hinuntergelaufen ist. Keine sehr professionelle Reaktion, ich weiß, aber da können Sie mal sehen. Er hat von leeren, verdrehten Augen erzählt, die sich spontan bewegen und glotzend auf ihn richten konnten. Von plötzlichen Zuckungen und Krämpfen, permanentem Sabbern...« Der Psychiater wandte sich an mich und fragte: »Dann warst du wohl der Junge im Koma?«
»War ich.«
Er zeigte mit dem Finger auf mich und sagte: »Meiner professionellen Einschätzung nach war es dieser kaum atmende Leichnam, der dem kleinen Terry Dean einen, ich kann's nicht anders nennen, permanenten Dachschaden zugefügt hat. Das war es in erster Linie, was ihn dazu brachte, sich in eine Fantasiewelt zurückzuziehen, in der er die Hauptfigur darstellt. Verstehen Sie, solche Traumata können durch schockartige seelische Erschütterungen auftreten, es kommen jedoch auch schleichende Traumatisierungen über einen längeren Zeitraum vor, die oft umso heimtückischer sind, weil man in sie sozusagen hineinwächst; sie werden zu einem genauso festen Bestandteil des Betroffenen wie dessen eigene Zähne.«
»Und der zweite Grund?«
»Seine Verletzung, dass er nie wieder Sport treiben kann. Obwohl Terry noch sehr jung ist, war er doch im tiefsten Inneren überzeugt, dass er auf die Welt gekommen ist, um sportliche Höchstleistungen zu vollbringen. Und nachdem ihm das genommen wurde, wandelte er sich vom Schöpfer zum Zerstörer.«
Keiner sagte etwas - wir alle ließen das erst mal sacken.
»Ich glaube, dass Terry sich anfangs, nachdem es ihm nicht mehr möglich war, Football oder Kricket zu spielen oder zu schwimmen, der Gewalt zuwandte, weil es auf eine perverse Art dem entsprach, was er kannte: sein Können zu beweisen. Es ging ihm einzig und allein darum, sich hervorzutun, nicht mehr und nicht weniger. Verstehen Sie, sein nutzloses Hinkebein beleidigte seinen Selbstwert, das Bild, das er von sich hatte, und er konnte diese Ohnmacht nicht hinnehmen, ohne seine Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. Also handelte er, gewaltsam, mit der Gewalttätigkeit eines Menschen, dem positiver Selbstausdruck verwehrt ist«, erklärte der Psychiater mit einem Stolz, der mir dem Anlass nicht angemessen erschien.
»Was zum Teufel reden Sie da?«, fragte mein Vater.
»Und wie überwindet er sein Krüppelsein?«, fragte ich.
»Nun ja, jetzt sprichst du von Transzendenz.«
»Transzendenz, wie sie zum Beispiel in einem Akt der Liebe erfahrbar würde?«
»Ja, ich denke schon.«
Dieses Gespräch stellte meine Eltern vor ein Rätsel, denn mein Gehirn kannten sie bis dahin noch nicht. Sie kannten wohl die äußere Schale, aber nicht das köstliche
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