Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
Vom Netzwerk:
Jungen, der sich für die Schule fertig macht, und versteckte mich, als der Bus vorbeidonnerte, hinter einem dornigen Busch, den ich später abbrannte, weil er mich zerkratzt hatte. Dann fuhr ich per Anhalter zur Klinik, mit einem Kühlschrankmonteur, der während der ganzen Fahrt hämisch über Menschen lachte, die ihren Kühlschrank nicht abtauen.
    Es war ein Schock, meinen Bruder zu sehen. Sein Lächeln war etwas zu breit, seine Haare zerdrückt, der Blick abwesend und sein Gesicht zu blass. Sie hatten ihm ein Krankenhaushemd angezogen, damit er auch immer daran erinnert wurde, dass er für einen Reißverschluss oder Knöpfe seelisch zu labil war. Erst als er Witze über die Stromrechnungen für seine Elektroschocktherapie machte, war ich davon überzeugt, dass ihn diese Erfahrung nicht kaputt machen würde. In einem überraschend behaglichen Raum mit Topfpflanzen und Panoramafenster, das einem eine perfekte Aussicht auf einen unter Verfolgungswahn leidenden Teenager bot, aßen wir gemeinsam zu Mittag.
    Bei der Erwähnung der Vorschlagsbox verfinsterte sich Terrys Miene. »Ich würde gern mal wissen, welcher Schwachkopf die angebracht hat«, knurrte er.
    Am Ende meines Besuchs erzählte er mir, dass er nicht ein einziges Mal Besuch von unserer Mutter bekommen habe, er mache ihr zwar keine Vorwürfe, sei aber doch der Ansicht, von Müttern könne man etwas Besseres erwarten.
    Als ich nach Hause kam, war sie hinten im Garten. Es hatte den ganzen Nachmittag geregnet, und ich sah, dass sie die Schuhe ausgezogen hatte und ihre Zehen ins nasse Erdreich drückte. Sie animierte mich, das auch zu machen, denn das Gefühl von kaltem Schlamm, der zwischen den Zehen hervorquillt, sei eine größere Wohltat, als man sich vorstellen könne. Und sie log nicht.
    »Wohin fährst du jeden Tag?«, fragte ich sie.
    »Terry besuchen.«
    »Ich war heute bei ihm. Er sagt, er habe dich nie zu Gesicht bekommen.«
    Sie erwiderte nichts und quetschte ihre Füße so tief es ging in den Matsch. Ich machte es ihr nach. Von irgendwoher war ein Klingeln zu vernehmen. Wir sahen beide hoch zum Gefängnis und betrachteten es lange, so als hätte der Klang einen sichtbaren Pfad über den Himmel gezogen. Das Leben dort oben wurde von Klingelzeichen reglementiert, die man in jedem Haus im Ort hören konnte. Dieses Klingeln signalisierte, dass es Zeit für den nachmittäglichen Hofgang der Häftlinge war. Bald würde ein Klingeln sein Ende anzeigen.
    »Du darfst es deinem Vater nicht sagen.«
    »Was?«
    »Dass ich in der Klinik war.« »Terry sagt, du warst gar nicht da.«
    »Nicht die, eine normale Klinik.« »Warum?«
    »Ich glaube, ich hab da was.« »Was denn?«
    Im Schweigen, das darauf folgte, fiel ihr Blick auf ihre Hände, weiße, knittrige Dinger mit blauen Venen, dick wie Telefonschnüre. Sie keuchte. »Ich hab die Hände meiner Mutter! «, sagte sie plötzlich überrascht und angewidert, als wären die Hände ihrer Mutter keine richtigen Hände gewesen, sondern Scheißklumpen in Handform.
    »Bist du krank?«, fragte ich.
    »Ich habe Krebs«, sagte sie.
    Als ich den Mund aufmachte, kamen die falschen Wörter heraus. Pragmatische Worte, nicht das, was ich eigentlich sagen wollte.
    »Ist es was, das sie mit einem scharfen Messer wegschneiden können?«, fragte ich.
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Wie lange hast du noch?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Es war ein grauenhafter Moment, der mit jeder weiteren Sekunde grauenhafter wurde. Aber hatten wir dieses Gespräch nicht schon früher geführt? Ich hatte ein seltsames Déjà-vu-Gefühl. Nicht eines von denen, wo man meint, ein Ereignis schon einmal erlebt zu haben, sondern das Gefühl, als hätte man genau dieses Déjà-vu schon einmal erlebt.
    »Es wird schlimm werden«, sagte sie.
    Ich schwieg. Ich hatte das Gefühl, man würde mir etwas Eisiges in den Blutstrom injizieren. Mein Vater kam im Schlafanzug aus der Hintertür geschlurft und stand mürrisch mit einem leeren Glas in der Hand da.
    »Ich will einen kalten Drink. Wo ist das Eis?«
    »Im Gefrierfach«, sagte sie, dann flüsterte sie mir zu: »Lass mich nicht allein.«
    »Was?«
    »Lass mich nicht allein mit ihm.«
    Dann tat ich etwas Unglaubliches, das mir bis heute nicht in den Kopf will. Ich nahm die Hand meiner Mutter in die meine und sagte: »Ich verspreche, dass ich bis zu deinem Tode bei dir bleiben werde.«
    »Schwörst du es?« »Ich schwör's.«
    Kaum hatte ich es ausgesprochen, fand ich das eine sehr schlechte Idee, eine

Weitere Kostenlose Bücher