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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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Fruchtfleisch. Die Antwort auf das alles lag für mich auf der Hand: Kein Arzt konnte Terry ändern, kein Pastor, kein Rabbi, auch kein Gott, nicht meine Eltern, nicht die Androhung von Strafe, nicht die Vorschlagsbox, ja nicht einmal ich. Nein, die einzige Hoffnung auf Besserung für Terry hieß Caroline. Seine Hoffnung hieß Liebe.
     

EWIGKEIT
    Ich hatte gar nicht mitbekommen, wie sie es hochgezogen haben. Vom Ort aus war es nicht zu sehen, was an der hohen Wand dichter Laubbäume auf der Kuppe von Farmers Hill lag, aber am Samstagabend stiegen wir zur Eröffnung allesamt den Serpentinenweg hinauf. Das hättest du sehen müssen, wie wir aus der Stadt marschierten wie bei einer Feuerwehrübung, die keiner ernst nahm. Das sonst übliche Geplänkel blieb aus, etwas anderes lag in der Luft. Wir alle spürten es - Vorfreude. Manche wussten nicht mal, was ein Observatorium ist, und die, die es wussten, waren zu Recht gespannt. Das Exotischste, was Städte im Busch sonst vorzuweisen haben, ist Dim Sum in den allgegenwärtigen Chinarestaurants. Das hier war schon ein Ding.
    Dann sahen wir es - eine große Kuppel.
    Direkt davor waren alle Bäume gefällt worden, denn wenn es um Teleskope geht, kann ein einziges Blatt an einem überhängenden Ast eine Galaxie verdecken. Das Observatorium war weiß gestrichen; eine mit Zinkblech verkleidete Rahmenkonstruktion aus Kanthölzern bildete die Wände. Über das Teleskop selbst wusste ich nicht viel, außer dass es dick, lang und weiß war, einen einfachen konkaven Spiegel hatte, auf einem isolierten Sockel stand, um Vibrationen auszuschließen, dass es noch ausbaufähig war, mehr als zweihundertfünfzig Pfund wog, auf zehn Grad über dem südlichen Horizont ausgerichtet war, nicht auf die Mädchendusche in unserer Schulturnhalle geschwenkt werden konnte, von einer Kuppel aus Fiberglas geschützt wurde und ein Glasdach hatte, das sich mit einem Scharnier öffnen ließ. Auf einen Motor, um das Teleskop zu bewegen, wenn man einen anderen Ausschnitt der Milchstraße betrachten oder den Durchgang eines Himmelskörpers verfolgen wollte, hatte man verzichtet und verließ sich stattdessen auf den »Einsatz von Muskelschmalz«.
    Einer nach dem anderen traten wir an das große Auge.
    Man musste auf eine kleine Trittleiter steigen. Alle pressten ein Auge gegen das Okular, und wenn ihre Zeit um war, stiegen sie in einer Art Trance wieder herunter, als hätte die ungeheure Weite des Alls sie lobotomisiert. Es war einer der seltsamsten Abende, den ich in diesem Städtchen je erlebte.
    Schließlich war ich dran. Es übertraf meine Erwartungen. Ich sah unendlich viele Sterne: schwach und alt und gelb. Ich sah helle glühende Sterne, Sternhaufen mit jungen blauen Sonnen. Ich sah Schlieren aus Teilchen und Staub, gewundene dunkle Pfade, die sich durch leuchtende Gaswolken zogen, und diffuses Sternenlicht, das mich an die Visionen erinnerte, die ich im Koma gehabt hatte. Ich dachte: Die Sterne sind Pünktchen. Dann stellte ich mir die Menschen ebenfalls als solche Pünktchen vor, aber leider wurde mir klar, dass die meisten von uns kaum ein Zimmer ausleuchten konnten. Wir sind selbst für Pünktchen zu klein.
    Dennoch kehrte ich Abend für Abend zum Teleskop zurück und machte mich mit dem südlichen Abendhimmel vertraut. Dem Universum dabei zuzusehen, wie es sich ausdehnt, ist allerdings so, wie das Gras beim Wachsen zu beobachten, wie ich nach einer Weile einsah, darum beobachtete ich lieber die Leute. Nachdem sie schweigend ans Teleskop getreten waren, in den fernsten Ecken unserer Milchstraße herumgestöbert und einen Pfiff ausgestoßen hatten, stiegen sie wieder von der Trittleiter, gingen nach draußen, rauchten und unterhielten sich. Wahrscheinlich war es ihre Unkenntnis in astronomischen Dingen, die ihre Gespräche bald auf andere Themen lenkte; dies ist einer der Bereiche, in denen der Mangel an trivialem, nutzlosem Wissen - in diesem Fall die Namen der Sterne - ein immenser Vorteil ist. Wichtig ist nicht, wie die Sterne heißen, sondern welche Wirkung sie haben.
    Die meisten reagierten erstaunlich zurückhaltend auf das Universum - »Ganz schön groß, was?« -, aber ich glaube, die Leute waren bewusst lakonisch. Sie waren von Ehrfurcht und Staunen erfüllt, und wie ein Träumender, der nach dem Erwachen noch still im Bett liegen bleibt, um in den Traum zurückzufinden, wollten sie sich nicht versehentlich wachrütteln. Dann setzten langsam die Gespräche ein, aber sie drehten sich nicht

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