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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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um die Sterne oder den eigenen Platz im Universum. Ich spitzte die Ohren und hörte sie zu meiner Verblüffung Dinge sagen wie: »Ich sollte mehr Zeit mit meinem Sohn verbringen.«
    »Als ich klein war, hab ich auch immer rauf zu den Sternen geguckt.«
    »Ich fühle mich nicht geliebt. Ich fühle mich nur gemocht.«
    »Ich frage mich, warum ich nicht mehr in die Kirche gehe.«
    »Meine Kinder sind anders geworden, als ich erwartet hatte. Größer möglicherweise.«
    »Ich würde gerne mal wieder mit Carol eine Reise machen, eine wie die, als wir frisch verheiratet waren.«
    »Ich will nicht mehr alleine sein. Meine Kleidung riecht muffig.«
    »Ich will etwas erreichen.«
    »Ich bin so träge geworden. Ich hab seit dem Schulabschluss nichts Neues mehr dazugelernt.«
    »Ich werde einen Zitronenbaum pflanzen; nicht für mich, aber für meine Enkel. Zitronen sind die Zukunft.«
    Es war toll. Das unendliche All hatte sie bewogen, sich selbst zu betrachten, und wenn schon nicht aus der Warte der Ewigkeit, so doch mit etwas mehr Klarheit. Ein paar Minuten lang waren sie zutiefst aufgewühlt, und plötzlich hatte ich das Gefühl, für all das Unheil, das meine Vorschlagsbox angerichtet hatte, belohnt und entschädigt zu werden.
    Mich selbst regte es auch zum Nachdenken an.
    Als ich eines Abends vom Observatorium zurückkam, fand ich mich mitten in der Nacht wie versteinert im Garten wieder, voller Sorgen um die Zukunft unserer Familie. Ich versuchte, auf eine Idee zu kommen, wie ich sie retten könnte. Leider war die Ideenbank blank. Ich hatte mein Konto überzogen. Und davon abgesehen, wie will man auch eine sterbende Mutter, einen alkoholkranken Vater und einen geisteskranken Straftäter wie meinen kleinen Bruder retten? Die Angst und Ungewissheit drohten meine Magenschleimhaut anzugreifen, und auch meine Harnröhre.
    Ich schleppte einen Eimer Wasser vom Haus zu einem schmalen Graben am hinteren Ende des Gartens und dachte: Auch wenn ich meinen Lieben kein besseres Leben ermöglichen kann, kann ich immerhin noch Schlamm machen. Staub und Wasser vereinigten sich zu einer schönen, dickflüssigen Masse. Ich sprang mit beiden Füßen hinein. Der Matsch war kalt und schmatzte. Mein Nacken kribbelte. Ich dankte meiner Mutter laut dafür, dass sie mich in die Wonnen des Matsches eingeführt hatte. Es kommt so selten vor, dass man von Menschen einen Rat erhält, mit dem man tatsächlich etwas anfangen kann. Normalerweise sagen sie irgendwas wie: »Mach dir keine Sorgen« oder »Das wird schon wieder«, was nicht nur unpraktikabel ist, sondern einen rasend macht, und dann muss man warten, bis sie todkrank werden, ehe man ihnen diesen Rat selbst genüsslich aufs Brot schmieren kann.
    Ich machte mich so schwer wie möglich, um tiefer in den Matsch einzusinken, bis er über meine Knöchel reichte. Ich wollte noch tiefer in den kalten Schlamm. Viel tiefer. Ich dachte daran, noch mehr Wasser zu holen. Viel mehr. Plötzlich hörte ich, wie jemand eilig durch das Buschland gerannt kam. Äste schnellten beiseite, und ein Gesicht tauchte auf und sagte: »Marty?«
    Harry trat ins Mondlicht. Er trug seine Gefängniskleidung, war übel zerschrammt und blutete.
    »Ich bin ausgebrochen! Was treibst du da? Die Füße im Schlamm kühlen? Wart mal.« Harry kam rüber und ließ seine nackten Füße neben meinen in die Matschkuhle sinken. »Das tut gut. Tja, also, ich lag da in meiner Zelle und dachte darüber nach, dass die besten Jahre meines Lebens hinter mir liegen und gar nicht mal so gut gewesen sind. Dann überlegte ich mir, dass mir in der Zukunft nichts weiter winkte, als im Gefängnis zu verrotten und zu sterben. Du hast das Gefängnis ja gesehen - ist wirklich kein Ort. Ich dachte: Wenn ich nicht wenigstens versuche auszubrechen, werd ich mir das nie verzeihen. Schön. Aber wie? Im Kino entkommen Gefangene immer, indem sie sich in einem Lieferwagen der Wäscherei verstecken. Konnte das klappen? Nein. Und weißt du, warum nicht? Früher haben die Gefängnisse vielleicht ihre schmutzige Wäsche abholen lassen, aber wir waschen unsere im Haus! Damit war's also schon mal Essig. Zweite Möglichkeit: Tunnel graben. Tja, ich hab im Leben schon genug Gräber ausgehoben und weiß, was das für eine Knochenarbeit ist, und abgesehen davon, hab ich bloß Erfahrung mit den ersten anderthalb Metern, die reichen, um eine Leiche verschwinden zu lassen. Wer weiß schon, was tiefer liegt? Flüssige Lava? Eine Erzader, an der man sich die Zähne

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