Vatermord und andere Familienvergnuegen
geht's Ihrem Rücken?«
»Beschissen! Meine Schultern sind steinhart. Eine Stadtmasseuse, das war mal was«, meinte Lionel, während er sich mit beiden Händen selbst die Schultern knetete.
Terry und ich standen vor dem Café. Es war geschlossen, es war jetzt immer geschlossen; der Boykott hatte sein Ziel erreicht. Drinnen geisterte Caroline herum; das Café war ihr Refugium, bis ihr Vater einen Käufer dafür finden würde. Wir sahen sie durchs Fenster: Sie lag rauchend auf der Theke und versuchte, perfekte Kringel zu blasen. Es war hinreißend. Die Ringe kamen als wirbelnde Halbkreise aus ihrem Mund. Ich klopfte ans Glas und wollte meine Hand in brüderlicher Solidarität auf Terrys Schulter legen, doch meine Hand griff ins Leere. Als ich mich umdrehte, sah ich nur noch Terrys Rücken, der sich rasch entfernte. Bis Caroline die Tür aufgeschlossen hatte und auf die Straße trat, war Terry verschwunden.
»Was gibt's?«, fragte sie.
»Nichts.«
»Willst du reinkommen? Ich rauche.« »Später vielleicht.«
Beim Weggehen stieg mir ein unangenehmer Geruch in die Nase wie von Vogelkadavern, die in der Sonne verwesen.
Ich fand Terry unter einem Baum sitzend, in der Hand einen Stapel Briefe. Ich setzte mich neben ihn und sagte nichts. Er starrte auf die Briefe.
»Die sind von ihr«, sagte er.
Carolines Briefe also! Zweifellos Liebesbriefe!
Ich streckte mich im Gras aus und schloss die Augen. Kein Lüftchen regte sich, und es war kaum ein Laut zu hören. Ich kam mir vor wie in einem Tresorraum.
»Darf ich mal sehen?«, fragte ich.
Der Masochist in mir brannte darauf, diese elenden Briefe in die Finger zu bekommen. Ich wollte rasend gern wissen, wie sie ihrer Liebe Ausdruck verlieh, auch wenn diese nicht mir galt.
»Die sind privat.«
Ich spürte, wie mir irgendwas in den Nacken krabbelte, eine Ameise vielleicht, aber ich rührte mich nicht - ich gönnte ihr den moralischen Sieg nicht.
»Kannst du es dann vielleicht zusammenfassen?«, fragte ich.
»Sie schreibt, sie will nur mit mir zusammen sein, wenn ich nicht mehr straffällig werde.«
»Und, was wirst du tun?«
»Ich denke, ich tu ihr den Gefallen.«
Ich spürte, wie ich ein wenig schrumpfte. Natürlich freute es mich, dass Terry durch die Frau, die er liebte, errettet werden würde, aber jubeln konnte ich nicht. Der Erfolg des einen Bruders ist das Scheitern des anderen. Verdammt. Damit hatte ich nicht gerechnet.
»Das Problem ist bloß...«, sagte er.
Ich setzte mich auf und schaute ihn an. Sein Blick war düster. Vielleicht hatte ihn die Klinik doch verändert. Ich war mir nicht sicher, wie genau; vielleicht hatte sich etwas Flüssiges in ihm verhärtet, oder etwas Festes war zerlaufen. Terry starrte in die Richtung des Stadtzentrums.
»Es gibt nur eines, was ich vorher noch erledigen muss«, sagte er. »Eine winzige ungesetzliche Kleinigkeit.«
Nur eines noch. Das sagen sie alle. Nur eines noch und dann noch eines, und ehe man sich's versieht, wird das Ganze zu einem Schneeball, der bergab rollt und immer mehr pissgelben Altschnee ansetzt.
»Du machst ja ohnehin, was du willst«, sagte ich, womit ich ihn nicht direkt ermunterte, ihm aber auch nicht abriet. »Vielleicht sollte ich es lieber lassen«, sagte er.
»Vielleicht.«
»Aber ich will es unbedingt.«
»Nun«, sagte ich und wählte meine Worte mit Bedacht, »manchmal müssen Menschen Dinge tun, um sich diese Dinge endlich von der Seele zu schaffen.«
Was hätte ich denn sagen sollen? Nichts, gar nichts. Es war ohnehin nicht möglich, Terry den einen oder anderen Kurs vorzuschlagen; und genau das war meine Rechtfertigung für mein derart unerhörtes brüderliches Versagen.
»Tja«, erwiderte er gedankenverloren, und ich stand da wie ein Stoppschild, obwohl ich »Gib Gas!« sagte.
Terry rappelte sich hoch und wischte sich das Gras von den Jeans. »Ich bin mal kurz weg«, sagte er und schlenderte in die Richtung, die von Carolines Café wegführte. Er ging betont langsam, ich glaube, er wollte, dass ich ihn aufhielt. Ich tat es nicht.
Verrat hat viele Gesichter. Du musst keine große Show abziehen wie Brutus, du musst keinen spitzen Gegenstand unübersehbar im Rücken deines besten Freunds zurücklassen, du kannst nach vollbrachter Tat noch so lange die Ohren spitzen und hörst trotzdem keinen Hahnenschrei. Nein, der heimtückischste Verrat kann einfach darin bestehen, dass du die Schwimmweste in deiner Kabine hängen lässt, weil du dir einredest, sie habe sowieso die falsche
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