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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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Größe für den Ertrinkenden. So schlittern wir da hinein, und noch im Schlittern schieben wir die Schuld für alles Elend dieser Welt auf den Kolonialismus, den Imperialismus, den Kapitalismus, die Globalisierung, die Stupid White Men und die USA, aber man braucht gar nicht erst eine Schutzmarke dafür zu suchen. Individueller Eigennutz - darin liegt die Ursache für unseren Niedergang, und dieser beginnt weder bei den Aufsichtsräten noch bei den Kommandostäben. Er beginnt bei uns zu Hause.
    Stunden später hörte ich die Explosion. Von meinem Fenster aus sah ich dicke Rauchwolken in den mondklaren Himmel aufsteigen. Mir zog sich der Magen zusammen, als ich in den Ort rannte. Ich war nicht der Einzige: Sämtliche Einwohner hatten sich vor dem Rathaus auf der Hauptstraße versammelt. Sie alle sahen geschockt aus, der klassische Gesichtsausdruck einer gaffenden Menge, die sich speziell zu Tragödien zusammenrottet. Meine unglückselige Vorschlagsbox war verschwunden. Ihre Einzelteile lagen über die ganze Straße verstreut.
    Ein Krankenwagen war eingetroffen, allerdings nicht der verletzten Box wegen. Ein Mann lag der Länge nach auf dem Bürgersteig, das Gesicht mit einem weißen, von Blut durchtränkten Tuch bedeckt. Zuerst hielt ich ihn für tot, aber dann zog er das Tuch weg und ließ sein blutverschmiertes, pulververbranntes Gesicht sehen. Nein, er war nicht tot. Er war blind. Er hatte gerade einen Vorschlag in den Kasten stecken wollen, als ihm das ganze Ding um die Ohren geflogen war.
    »Ich kann nichts sehen! Ich sehe nichts mehr!«, schrie er voller Panik.
    Es war Lionel Potts.
    Mehr als fünfzig Männer und Frauen hatten sich am Ort des Geschehens eingefunden, und in ihren Augen glomm eine Art freudiger Erregung, als hätten sie vorgehabt, einen zauberhaften Abend lang durch die Straßen zu tanzen. Inmitten der Menge sah ich Terry mit vors Gesicht geschlagenen Händen im Rinnstein hocken. Das Entsetzen über seinen zeitlich so unglücklich gewählten Akt des Vandalismus war zu viel für ihn. Lionel war das eine helle Licht in einer Welt trüber Funzeln gewesen, und Terry hatte ihm die Augen herausgerissen. Es war ein komisches Gefühl, die Trümmer meiner Box über die Straße verstreut zu sehen, Terry zusammengesackt im Rinnstein und Lionel auf dem Bürgersteig niedergestreckt, während sich Caroline über ihn beugte; mir war, als hätte es alle, die mir etwas bedeuteten, mitzerfetzt. Noch immer hing Rauch in der Luft und kräuselte sich in dem bläulichen Licht; es roch fast wie an Silvester.
    Nur fünf Tage später zeigte sich meine Familie im besten Sonntagsstaat.
    Jugendgerichtsverhandlungen unterscheiden sich nicht groß von anderen Gerichtsverhandlungen. Der Staat ließ Terry eine Reihe von Anschuldigungen anprobieren wie eine reiche Dame, die mit ihrem Lieblingsgigolo Anzüge kaufen geht: versuchter Mord, versuchter Totschlag, schwere Körperverletzung - die Staatsanwaltschaft konnte sich nicht entscheiden. Sie hätten mich auch festnehmen sollen. Ich weiß nicht, ob es ein justiziables Verbrechen ist, jemanden aus Liebe zu einer Straftat anzustacheln, aber im Grunde sollte es eins sein.
    Am Ende wurde Terry zu drei Jahren Jugendhaft verurteilt. Als sie ihn wegbrachten, zwinkerte er mir kurz zu. Dann war er weg, einfach so, und wir standen verstört im Gerichtssaal und klammerten uns aneinander. Ich sag dir, das Räderwerk der Justiz mag sich langsam drehen, aber wenn der Staat einen von der Straße haben will, können diese Räder richtig Gummi geben.
     

DEMOKRATIE
    Nach Lionel Potts' Erblindung befielen mich bohrende Zweifel, und nach Terrys Inhaftierung stürmten sie von allen Seiten auf mich ein. Ich musste irgendetwas machen. Aber was? Ich musste jemand werden. Aber wer? Ich wollte nicht die Dummheit der Menschen um mich herum kopieren. Aber wessen Dummheit sollte ich dann kopieren? Und warum war mir nachts so elend? War ich verunsichert? War es meine Furcht, die mich verunsicherte? Wie sollte ich klar denken, wenn ich so verunsichert war? Und wie mich in dieser Welt zurechtfinden, wenn ich nicht das Geringste verstand?
    Derart aufgewühlt, kam ich vor der Schule an, aber ich konnte mich nicht dazu überwinden hineinzugehen. Eine gute Stunde lang stand ich da, starrte die hässlichen Backsteingebäude an, die blöden Schüler, die Bäume auf dem Schulhof, die braunen Polyesterhosen der Lehrer, die ein wischendes Geräusch auf ihren dicken Oberschenkeln machten, wenn die Lehrer zwischen den

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