Vatermord und andere Familienvergnuegen
Keine Partys, keine Einladungen, keine Freundschaften. Ich lernte, dass es einfach ist, sich abzusondern. Sich zurückziehen? Kinderleicht. Sich verstecken? Sich auflösen? Sich aus allem heraushalten? Kein Problem. Wenn du dich von der Welt zurückziehst, zieht sich die Welt auch von dir zurück, im selben Maß. Das ist ein Twostepp, du mit der Welt. Ich suchte keinen Ärger, und es zermürbte mich, dass er mich nicht von sich aus fand. Nichts zu tun ist für mich so nervenaufreibend, wie am Morgen eines Börsencrashs an der Wall Street zu arbeiten. So bin ich nun mal gestrickt. Drei Jahre geschah in meinem Leben absolut nichts, und das war unglaublich stressig.
Meine Mitbürger fingen an, mich mit einem gewissen Grausen zu betrachten. Zugegeben, ich gab in jenen Tagen eine seltsame Figur ab: bleich, unrasiert, hager. Eines Winterabends erfuhr ich, dass ich inoffiziell zum ersten geistig verwirrten Obdachlosen des Städtchens gekürt worden war, ungeachtet der Tatsache, dass ich ja immer noch ein Zuhause hatte.
Und immer noch waren da die Fragen, und mit jedem Monat wurde mein Verlangen nach Antworten lauter und drängender. Ich begab mich auf Spurensuche in meinem inwendigen Universum, wobei meine Gedanken, Impulse und Taten die Sterne darstellten. Ich wanderte in Schmutz und Staub und stopfte mir den Kopf mit Literatur und Philosophie voll. Der erste Hinweis auf eine mögliche Entlastung war von Harry gekommen, als er mich damals bei meinen Besuchen im Gefängnis auf Nietzsche gebracht hatte. »Friedrich Nietzsche, Martin Dean«, hatte er uns einander vorgestellt, während er mir ein Buch zuwarf. »Alle sehr individuellen Maßregeln des Lebens bringen die Menschen gegen den, der sie ergreift, auf; sie fühlen sich durch die außergewöhnliche Behandlung, welcher jener sich angedeihen lässt, erniedrigt, als gewöhnliche Wesen«, zitierte er sein Idol.
Seit damals hatte ich viele philosophische Schriften aus der Bibliothek verschlungen, und Philosophie erschien mir in erster Linie als kleinliche Streiterei über Dinge, die man ohnehin nicht wissen konnte. Warum Zeit für ein unlösbares Problem verschwenden?, fragte ich mich. Was macht es schon, ob die Seele aus glatten, runden Seelenatomen besteht oder aus Lego, man weiß es nicht, also Schwamm drüber. Außerdem fand ich heraus, dass die meisten Philosophen, bei Platon angefangen, ob Genie oder nicht, ihre eigenen Philosophien unterminierten, denn anscheinend hatte keiner Lust, mit einer blanken Schiefertafel anzufangen oder Ungewissheit auszuhalten. Man konnte die Vorurteile, Eigeninteressen und Wunschvorstellungen eines jeden Einzelnen herauslesen. Und dann Gott! Gott! Gott! Die brillantesten Geister denken sich erst all diese komplizierten Theorien aus, und dann sagen sie: »Aber setzen wir einfach mal voraus, es gibt einen Gott, und setzen wir ferner voraus, es ist ein guter Gott.« Warum sollte man irgendetwas voraussetzen? Für mich war es offenkundig, dass der Mensch sich Gott nach seinem Bilde geschaffen hat. Der Mensch hat nicht genug Vorstellungskraft, um sich einen Gott auszudenken, der vollkommen anders geartet ist als er selbst, deswegen sieht Gott auf Renaissancegemälden auch immer aus wie ein halb verhungerter Weihnachtsmann. Hume sagt, der Mensch füge lediglich bekannte Vorstellungen neu zusammen, er erfinde nichts. Engel beispielsweise sind Männer mit Flügeln. Bigfoot ist ein Mann mit großen Füßen, dasselbe in Grün. Deswegen konnte ich in den meisten »objektiven« philosophischen Systemen überdeutlich die Ängste, Triebe, Vorurteile und Sehnsüchte ihrer Erfinder durchscheinen sehen.
Meine einzige sinnvolle Tätigkeit bestand darin, Lionel, dessen Augen irreparabel geschädigt waren, vorzulesen. Und eines regnerischen Nachmittages verlor ich fast meine Jungfräulichkeit an Caroline, ein Ereignis, das ihren überstürzten Weggang bei Nacht und Nebel zur Folge hatte. Und so trug es sich zu:
Wir bemühten uns gerade gemeinsam, ihrem Vater ein Buch vorzulesen, doch er unterbrach uns ständig damit, sich einreden zu wollen, die Erblindung habe sein Leben zum Besseren gewendet.
Lionel tat wirklich sein Bestes, um sich mit seiner Blindheit anzufreunden. »Geringschätzige Mienen! Herablassende Blicke, die ich auf mich gezogen habe, seit dem Tag, an dem ich mich an diesem räudigen Ort niederließ! Nie wieder werde ich die sehen müssen! Gott sei Dank - ich konnte ihren Anblick eh nicht mehr ertragen!« Lionel machte endlich seinem Ärger
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