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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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>Wer zum Teufel ist da?< Shelly hieß sie, eine Krankenschwester, die Caroline aufgetrieben hat, damit sie sich um mich kümmert. Ich hab Shelly angeschnauzt, sie soll abhauen, und sie ist abgehauen, das Aas. Ich weiß nicht, was ich anfangen soll. Ich hab Angst, Martin. Dunkelheit ist langweilig und erstaunlich braun.«
    »Wo ist Caroline denn hin?«
    »Keine Ahnung! Aber ich denke, dass sie sich gut amüsiert. Das hat man davon, wenn man seine Kinder liberal erzieht. Freiheitsdrang.«
    »Ich bin sicher, sie kommt bald zurück«, log ich. Ich glaubte nicht, dass sie je zurückkommen würde. Ich hatte immer gewusst, dass Caroline eines Tages verschwinden würde, und dieser Tag war nun gekommen.
    Im Lauf der folgenden Monate erhielten wir Postkarten von ihr aus aller Welt. Die erste zeigte einen Fluss in Bukarest, über den quer »Bukarest« gedruckt war. Auf die Rückseite hatte Caroline gekritzelt: »Ich bin in Bukarest!« In diesem Stil kam alle vierzehn Tage eine neue Karte an, aus Wien, Warschau und Paris.
    In der Zwischenzeit besuchte ich Terry, sooft es ging. Es war eine weite Fahrt, erst von unserem Ort mit dem Bus in die Stadt, dann weiter mit dem Zug durch die Stadt und schließlich wieder mit einem Bus in einen armseligen Vorort weit draußen. Die Jugendstrafanstalt sah aus wie ein niedriger Wohnblock. Jedes Mal, wenn ich mich anmeldete, begrüßte mich der Vollzugsbeamte wie den Patriarchen einer angesehenen Familie und geleitete mich persönlich in den Besucherraum. Der Weg führte durch lange Flure, in denen ich mich permanent von jungen Kriminellen bedroht fühlte, die eine solche Wut ausstrahlten, als hätte man sie verhaftet, nachdem sie zu Fuß den Himalaja überquert hatten. Terry erwartete mich im Besuchszimmer. Oft waren seine Augen von frischen blauen Flecken umrahmt. Einmal, als ich mich zu ihm setzte, erkannte ich auf seiner Wange den Abdruck einer Faust. Er starrte mich durchdringend an. »Caroline hat mich besucht, bevor sie weggegangen ist. Sie hat gesagt, dass sie mich immer lieben wird, obwohl ihr Vater durch mich blind geworden ist.« Als ich nicht darauf ansprang, sprach er davon, er habe sich mit dem Verbrechen, durch das Lionel erblindet war, auf eine Einbahnstraße in die Kriminalität begeben. »Du brichst die Brücken zur normalen Gesellschaft nicht einfach ab«, erklärte er, »du sprengst sie in die Luft.« Er sprach hastig, als drängten die Worte aus ihm heraus. Er wollte sich unbedingt rechtfertigen, sich mir anvertrauen, meine Zustimmung für seinen neuen Plan gewinnen. Verstehst du, er las die Trümmer dieser Vorschlagsbox auf und bastelte sich daraus die Geschichte seines Lebens, fügte sie zu einem Muster zusammen, mit dem er leben konnte.
    »Kannst du dich nicht einfach unauffällig verhalten und dich aufs Lernen konzentrieren?«, bat ich ihn.
    »Ich lerne ja. Ein paar von uns haben große Pläne, wenn wir hier raus sind«, sagte er und zwinkerte mir zu. »Ich hab ein paar Jungs kennengelernt, die mir allerlei beibringen.«
    Ich rang beim Weggehen verzweifelt die Hände und machte mir Gedanken über Jugendstrafanstalten, Erziehungsheime und Gefängnisse; gerade durch solchen Maßregelvollzug knüpfen hoffnungsvolle Nachwuchskriminelle wertvolle Kontakte. Der Staat hat offenbar nichts Besseres zu tun, als gefährliche Kriminelle perfekt zu vernetzen.
    Falls mein Vater vorgehabt hatte, seinen eigenen Niedergang noch zu beschleunigen, so gelang ihm das sicherlich am besten, indem er den Beruf des Schädlingsbekämpfers ergriff. Während der vergangenen Jahre hatte er sich zum Mädchen für alles im Ort entwickelt, hatte Rasen gemäht, Zäune repariert und hier und da als Maurer gearbeitet, aber nun hatte er endlich den idealen Job für sich gefunden: Ungeziefer ausrotten. Den ganzen Tag über atmete er ungesunde Dämpfe ein, hantierte mit giftigen Substanzen wie Insektenpulver und tödlichen kleinen blauen Körnern, und ich bekam den Eindruck, dass er die eigene Toxizität genoss. Wenn er nach Hause kam, hielt er seine Hände von sich gestreckt und sagte: »Fasst mich bloß nicht an! Kommt mir nicht zu nahe! Ich hab Gift an den Händen! Schnell! Dreht den Wasserhahn auf!« Manchmal kam er mit seinen ausgestreckten giftigen Händen auf uns zugerannt und drohte, damit unsere Zungen zu berühren. »Gleich hab ich eure Zungen! Dann seid ihr erledigt!«
    »Warum trägst du keine Handschuhe?«, kreischte meine Mutter.
    »Handschuhe sind was für Proktologen!«, erwiderte er und

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