Vatermord und andere Familienvergnuegen
Geld und sein Opus, dachte mir aber: Ich kann später ja immer noch meine Meinung ändern.
An jenem Abend saß ich staunend im Schuppen meines Vaters über Harrys Kritzeleien. Einige seiner Notizen waren extrem kurz und offenbar an Vollidioten gerichtet.
Autodiebstahl
Wenn du nur Automatik fahren kannst, klau keinen Wagen mit Gangschaltung.
Andere waren ausführlicher und widmeten sich nicht nur der Beschreibung des Verbrechens, sondern auch der Psyche des anvisierten Opfers.
Raubüberfall
Sei auf alles vorbereitet! Dem gesunden Menschenverstand zum Trotz sind Menschen tatsächlich bereit, ihr Leben für die zwei Dollars in ihrer Brief- oder Handtasche zu riskieren... und wenn der Überfall am helllichten Tag erfolgt, sind sie besonders wütend... Die Frechheit eines Kriminellen, seine Tat zu begehen, während die Sonne hoch am Himmel steht, erbost sie derart, dass sie sich wie Actionhelden auf dich stürzen, selbst wenn du ein Messer oder eine Schusswaffe in der Hand hältst... Außerdem scheint die Mühsal, eine Kreditkarte sperren zu lassen oder einen Führerschein neu zu beantragen, für die Mehrzahl der Durchschnittsbürger so unerträglich, dass sie lieber das Risiko eingehen, ihr Leben zu verlieren... In ihrer Vorstellung ist der qualvolle, langsame Tod durch eine Stichverletzung tausendmal besser, als sich mit städtischen Bürokraten auseinandersetzen zu müssen... deswegen musst du fit sein wie ein Langstreckenläufer.
Entweder war das alles Quatsch, oder es war brillant; ich wagte nicht zu entscheiden, was davon zutraf. Ich stand vom Tisch auf, um eine Pause einzulegen, blieb dann aber doch über Harrys Aufzeichnungen gebeugt stehen und studierte sie mit fieberhafter Erregung. Etwas an diesem Irrsinn ging mir unter die Haut. Es schien sich ein Muster abzuzeichnen: Mein Vater hatte ein Gefängnis erbaut; Terry war unter dem Einfluss eines in eben-diesem Gefängnis Inhaftierten zum Verbrecher geworden. Und ich? Vielleicht kam hier endlich ich ins Spiel. Vielleicht war dieses Buch endlich etwas, für das ich mich einsetzen konnte, etwas, das ich in den stillgelegten, erkalteten Schmelzofen des Todes mitnehmen konnte. Ich konnte mich einfach nicht losreißen. Die Blätter lockten mich wie das Glitzern einer Münze am Boden eines Schwimmbeckens. Ich wusste, dass ich hinabtauchen musste, um zu erkennen, ob es eine Münze von Wert war oder nur ein Stückchen Stanniolpapier, das der Wind hineingeweht hatte.
Ich stand in der Tür des Schuppens, steckte mir eine Zigarette an und blickte zum Himmel empor. Es war eine finstere Nacht, nur drei Sterne waren zu sehen, und keiner davon zählte zu den bekannteren. Ich steckte die Hand in die Hosentasche und fühlte die zerknüllten Geldscheine. Wie konnte ich nach all den Vorträgen, die ich Terry gehalten hatte, so etwas wie das hier tun? Würde mich das nicht zum Heuchler stempeln? Und wenn ich es doch täte? Ist es schlimm, ein Heuchler zu sein? Ist Heuchelei nicht eigentlich ein Beweis für Flexibilität? Wenn man seinen Prinzipien treu bleibt, ist man dann nicht nur unflexibel und engstirnig? Ja, ich habe Prinzipien, na und? Heißt das etwa, dass ich mein Leben stur nach ihnen ausrichten muss? Ich habe die Prinzipien unbewusst gewählt, um von ihnen mein Verhalten leiten zu lassen, aber darf sich ein Mensch nicht bewusst über sein Unbewusstes hinwegsetzen? Wer hat denn hier schließlich das Sagen? Soll ich auf mein junges Ich vertrauen und mir von ihm den Verhaltenskodex für mein ganzes weiteres Leben diktieren lassen? Ist es nicht möglich, dass ich mich in allem irre? Sollen die krausen Gedanken meines eigenen Hirns für mich bindend sein? Und bin ich just in diesem Moment nur deshalb rational, weil ich ans Geld will? Aber warum auch nicht? Die Evolution hat uns nicht umsonst den Verstand mitgegeben. Wäre ein Huhn nicht auch glücklicher, wäre es vernunftbegabt? Dann könnte es den Menschen sagen: »Würdet ihr bitte damit aufhören, mir den Kopf abzuhacken, nur um zu sehen, ob ich auch ohne noch weiterlaufe? Wie lange wollt ihr das noch komisch finden?«
Ich fuhr mir über den Kopf. Ich spürte eine existenzielle Migräne nahen, einen echten Kaventsmann.
Ich trat ins Freie und ging auf der nächtlichen Straße Richtung Stadt. Mit seinem neuen Ruhm hatte Terry der Unterwelt ein Gesicht gegeben. Mit dem Buch würden Harry und ich ihr ein Gehirn geben. Es war ein gutes Gefühl, Teil von etwas zu sein, das größer war als man selbst.
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