Vatermord und andere Familienvergnuegen
»Ordnungswidrigkeiten und andere nicht gewinnorientierte Verbrechen: bei Rot über die Ampel gehen, Herumlungern, Graffiti, Abfall fallen lassen, Spritztouren und unsittliche Entblößung.« Als Harry behauptete, es handele sich um das ultimative Werk, hatte er nicht übertrieben!
Ich verließ das Haus in der Morgendämmerung, und mir schwirrten aufregende Überlegungen im Kopf herum. Würde Harry dieses verrückte Buch je veröffentlichen können? Wie sollten wir einen Verleger dafür finden? Wie würde es beim Lesepublikum ankommen?
Als ich in den kalten Morgen hinaustrat, bemerkte ich den Rauch eines Lagerfeuers und daneben vier schlafende Reporter, die unter den Bäumen kampierten. Wann waren die denn gekommen? Mich durchlief es eiskalt. Für ihre Anwesenheit konnte es nur drei Erklärungen geben: Terry hatte entweder ein weiteres Verbrechen begangen, er war verhaftet worden, oder er war tot. Ich hätte sie am liebsten wach gerüttelt und gefragt, was denn nun zutreffe, aber ich ging das Risiko nicht ein. Ich war schließlich auf dem Weg zu Harry - einem unbedeutenderen Verbrecher zwar, aber doch immerhin einem steckbrieflich gesuchten. Ich ließ die Reporter schlafen, wünschte ihnen Albträume und ging zur Bushaltestelle.
Hinter mir hörte ich Schritte. Ich verzog das Gesicht, weil ich die Polizei oder eine Bande Reporter erwartete. Aber es war meine Mutter, barfuß, in ihrem beigefarbenen Nachthemd. Sie sah aus, als habe sie seit Jahrzehnten nicht mehr geschlafen. Offenbar hatte sie sich ebenfalls an den Reportern vorbeigeschlichen.
»Wohin willst du so früh am Morgen? Triffst du dich mit Terry?«
»Nein, Mum. Ich weiß gar nicht, wo er ist.«
Sie packte mich am Arm. Ich entdeckte Schreckliches in ihren Augen. Sie sahen aus, als habe sie geweint und ihrem Körper alles an Salz und Spurenelementen entzogen. Mums Krankheit forderte ihren Tribut. Sie war bereits dünner geworden, bereits alt. Tieftraurig sagte sie: »Es hat einen neuen Anschlag gegeben. Es kam im Radio. Diesmal wieder ein Kricketspieler - sie haben ihn mit eingeschlagenem Schädel gefunden, einen Kricketball im Mund. Sie behaupten, es ist dein Bruder gewesen. Warum, warum sagen sie so was?«
»Weil er es wahrscheinlich war.«
Sie schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht. »Sag das nicht! Das ist eine Lüge! Such Terry und richte ihm aus, er soll zur Polizei gehen. Wenn er sich versteckt hält, sieht es doch so aus, als sei er schuldig.«
Der Bus kam, während sie noch hysterisch weiterbrabbelte. »Und wenn du Terry nicht finden kannst, dann finde um Himmels willen diesen Doppelgänger!«
Ich stieg in den Bus und suchte mir einen Platz. Als der Bus anfuhr, sah ich mir durchs Fenster meine Mutter an. Sie hatte eine Hand gegen einen Baum gestützt und entfernte mit der anderen Steinchen von ihrer Fußsohle.
Als ich ankam, starrte Harry mir wütend aus dem vorderen Fenster entgegen. Ich trat ein und hätte mich fast hinreißen lassen, ihn zu umarmen.
»Was willst du denn hier?«, brüllte er mich an. »Ich hatte gehofft, ich seh dich erst wieder, wenn du fertig bist! Du hast deine Meinung geändert, was? Arschloch! Verräter! Hast wohl Gewissensbisse bekommen! Hau doch ab und geh ins Kloster, du scheinheiliger Mistkerl!«
Ich unterdrückte ein Grinsen, zog das Manuskript aus der braunen Mappe und schwenkte es vor seinem Gesicht. Er machte große Augen.
»Ist das etwa...«
Ich konnte mich nicht länger beherrschen und grinste breit. »So schnell?«
»Ich hatte tolles Rohmaterial.«
Harry grapschte nach dem Manuskript und blätterte es aufgeregt durch. Als er fertig war, fing er wieder bei der ersten Seite an. Eine Weile blieb ich neben ihm stehen, bis ich begriff, dass er es von vorne bis hinten durchlesen wollte. Also ging ich nach draußen in den Garten, der in der prallen Sonne lag. Der Pool hatte sich in einen übel riechenden Morast verwandelt. Der Rasen stand hoch und war verwildert. Die Metallgestelle der Liegestühle waren braun vor Rost. Ich ließ mich in einen hineinfallen und schaute in den Himmel. Wolken in Form schwangerer Bäuche zogen dahin. Mir wurden die Lider schwer, und ich dämmerte ermattet in den Schlaf hinüber. Bevor ich dort ankam, auf halbem Weg ins Traumland, meinte ich, Terry zu sehen, der sich in einer der Wolken versteckte. Immer wenn ein Flugzeug vorbeikam, sah es aus, als ziehe er sich einen duftigen Wolkenschleier vors Gesicht. Dann schlief ich ein.
Schweißgebadet wachte ich auf. Ich lag in der
Weitere Kostenlose Bücher