Vatermord und andere Familienvergnuegen
Eines nach dem anderen gingen die Lichter im Ort aus. Auf dem Hügel sah ich die Silhouette des Gefängnisses, imposant und grotesk wie das langsam zerfallende steinerne Abbild einer längst vergessenen Gottheit.
»Warum sollte ich nicht tun, was ich will? Was hindert mich?«, fragte ich laut.
Ich spürte einen faustgroßen Kloß im Hals. Es war das erste Mal, dass ich mich selbst so radikal infrage stellte, und es kam mir so vor, als äußerte diese Fragen einer, der älter war als ich.
Wieder sprach ich laut: »Die Menschen verlassen sich zu sehr auf sich selbst. Sie lassen ihr Leben von dem beherrschen, was sie für die Wahrheit erachten, und wenn ich mich daranmache, eine Lebensweise zu finden, bei der ich mein Leben selbst bestimme, verliere ich in Wirklichkeit die Kontrolle darüber, denn das, wofür ich mich entschieden habe, meine Wahrheit, wird zum Gebieter, und ich mache mich zu ihrem Diener. Aber wie kann ich mich frei entfalten, wenn ich mich einem Gebieter unterwerfe, auch wenn dieser Gebieter ich selbst bin?«
Meine Worte ängstigten mich, denn langsam begriff ich ihre Konsequenzen. »Gesetzlosigkeit, Ziellosigkeit, Chaos, Konfusion, Kontusion«, sagte ich in die Nacht hinein. Ich drehte mich im Kreis. Mein Schädel dröhnte. Gedanken, wie ich sie dachte, konnten Schädeldröhnen auslösen.
Schlagartig und mit blendender Klarheit erkannte ich, dass Harry ein Genie war. Ein Prophet, vielleicht gar ein Märtyrer - das würde die Geschichte zeigen, das kam auf die Art seines Todes an. Er war ein Erneuerer. Deswegen erwählte Harry mich, seine hirnverbrannten Schrifttafeln vom Berge herunterzutragen. Er wies mir den Weg. Durch sein Beispiel führte er mir vor Augen, dass man kein Gott sein musste, um zu erneuern, zu erschaffen, umzukrempeln, zu zerstören, zu zermalmen und zu inspirieren; ein Mensch kann den Job genauso gut machen, in seinem eigenen Tempo. Nicht in sechs Tagen wie Du-weißt-schon-wer. Man muss ja nichts überstürzen. Und selbst wenn ich nach all meiner Plackerei nur Hass oder Gleichgültigkeit ernten würde, wusste ich doch hier und jetzt, dass ich es versuchen musste, denn dies war mein Erwachen, und genau darum geht es bei einem Erwachen schließlich: dass man in die Pötte kommt. Es macht keinerlei Sinn, erweckt zu werden und dann die Schlummertaste zu drücken und weiterzupennen.
Das waren schwerwiegende Gedanken, richtig fette Brocken. Auf der Erde lag eine halb gerauchte Zigarette. Ich hob sie auf. Sie fühlte sich stark an in meiner Hand, wie eine olympische Fackel. Ich zündete sie an und wanderte durch den Ort. Es war kalt. Ich stampfte mit den Füßen auf und steckte mir die Hände unter die Achseln, um nicht zu frieren. Harrys Buch war der erste kleine Schritt einer namenlosen Revolution, und ich war meines überragenden Intellekts willen ausgewählt worden. Ich wollte mich schamlos lobpreisen. Ich hätte meine eigenen grauen Zellen küssen mögen. Ich fühlte mich Tausende von Jahren alt. Ich fühlte mich älter als die Erde selbst. Ich war überwältigt von der Kraft und Macht der Worte und Gedanken. Ich dachte an meinen ersten Vater, Vater Nummer eins, damals in Polen, und ich dachte an seinen Irrsinn, für einen Gott zu sterben. Was für ein dämlicher Grund: für einen Gott, einen lausigen Gott! »Ich will sterben, weil ich ein Geschöpf mit Verfallsdatum bin!«, brüllte ich einen Baum an. »Ich will sterben, weil ich ein Mensch bin und es Menschen so ergeht; sie gehen zugrunde, verrotten und verschwinden!« Ich ging weiter und verfluchte die blinde Dummheit meines Vaters. Ich schrie: »Sterben für eine Idee! Sich für einen Götzen eine Kugel einzufangen! Was für ein Idiot!«
Unsere Kleinstadt verfügte nur auf der Hauptstraße über eine Straßenbeleuchtung - die Ein- und Ausfahrtsstraßen waren der Gnade des Mond- und Sternenlichts überlassen, und wenn es beides nicht gab, waren sie stockdunkel. Die Bäume rauschten im Wind, der von Westen her wehte. Ich ging zu einem Haus, setzte mich auf die Veranda und wartete. Auf was? Nicht was: auf wen? Es war das Haus von Caroline. Plötzlich begriff ich, dass Romantiker Schwachköpfe sind. Unerwiderte Liebe hat nichts Wunderbares oder Interessantes an sich. Unerwiderte Liebe ist beschissen, schlicht und einfach beschissen. Jemanden zu lieben, der deine Gefühle nicht erwidert, mag in Büchern aufregend sein, im wirklichen Leben ist es unerträglich öde. Ich sage dir, was aufregend ist: hitzige, leidenschaftliche
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