Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
Vielleicht überlegst du dir einmal, wo du hingehörst, auf welcher Seite du stehst.«
»Aber Papa …«
»Wir haben dir die Reiterei verboten. Das taugt alles nichts für eine Schaftführerin und auch nicht für die Tochter eines Polizisten und Parteigenossen, vor allem nicht mit dieser Mathilda und den Schubertpferden.«
»Papa, stell dir vor: Mathilda hat mir heute erzählt, dass ihre Mutter Jüdin ist. Mathilda ist Halbjüdin. Sie hat Angst. Sie fürchtet sich vor den schwarzen Autos.«
»So, so. Und hat sie dir sonst noch etwas anvertraut?«
»Mathilda sprach von den gelben Bänken auf der Promenade und fragte, ob ich weiß, was das zu bedeuten hat. Ich wusste es nicht.«
»Schwarze Autos, gelbe Bänke. Hast du keine anderen Sorgen?«
»Sie ist meine Freundin und ich …«
»Jetzt pass mal gut auf. Die gelben Bänke sind ausschließlich für Juden bestimmt. Ich zum Beispiel möchte nicht neben Juden sitzen, wenn ich mir die Sonne auf den Bauch scheinen lasse. Und Gelb ist eine Warnfarbe. Sie bedeutet so viel wie
Achtung! Pest!
Gelb ist die Farbe der Juden.«
»Und die Halbjuden? Sollen sie dann auf gestreiften Bänken sitzen?«
Vaters Faust fährt mit Wucht auf die Tischplatte.
»Es reicht! Du wirst dieses Mädchen nicht mehr treffen. Ab sofort ist Schluss damit. Und das ist kein Wunsch, sondern ein Befehl. Und gnade dir Gott, wenn du dich nicht daran hältst!«
Ich bin den Tränen nahe. Gerade noch habe ich mit Mathilda auf dem Steg am Bootshaus gesessen, und alles war so klar und einfach. Und jetzt sagt mein Vater, dass das alles vorbei sein muss. Er befiehlt, duldet keine Widerrede. Und mich fragt niemand. Wer will schon wissen, was ich will? Er lässt mir keine Wahl. Mein Kopf fühlt sich leer an.
Irgendwann sitzt Mama mit mir am Küchentisch. Wann mein Vater aufgestanden ist, ob er noch was gesagt hat, ich weiß es nicht. Mama sagt, dass er ein Machtwort sprechen musste und dass es zu meinem Besten sei. Mathilda sei Halbjüdin, ihre Mutter Jüdin, und mit solchen Leuten verkehre man besser nicht. Mama schaut mich eindringlich an. »Paula, dieses Deutschland ist deine Zukunft, dein Leben, deine Aufgabe. Vergiss die Jüdin. Sie tut dir nicht gut. Du bist Papas Prinzessin. Enttäusche ihn nicht und vor allem nicht unseren Führer.«
Ihre Stimme dringt wie durch einen schweren Vorhang zu mir.
»Du bist unser Kind, und wir sind für dich da.« Mama spricht vom BDM und meinen Aufgaben. Und sie sagt, dass der Führer eine Jugend will, an der nichts Schwaches, nichts Zärtliches ist. »Ich habe dir Badewasser eingelassen. Geh und wasch dir diesen Stallgeruch ab. Deine Reithose werde ich verbrennen.«
Ich liege dann eine ganze Weile im Waschzuber, seife mich ein und schrubbe mich. Später trockne ich mich ab und rubble dabei meine Haut ganz fest, bis sie fast krebsrot ist.
Auf dem Weg in mein Zimmer höre ich, wie meine Mutter in der Küche zu meinem Vater sagt:
»Es wird alles wieder gut. Paula weint nicht einmal.«
Ja, Mama, denke ich, ich kann nicht weinen. Dann setze ich mich auf die Bettkante und halte das Buch des Führers auf meinen Knien. Ich sehe mir seine Widmung und seine Unterschrift an. Und ich weiß plötzlich: Da ist der Führer, und da ist Mathilda. Und zwischen ihnen ist eine hohe Mauer.
Ob ich dem Führer schreibe? Ich kann ihm doch schreiben, dass er sich bei Mathilda vertan hat. Der Führer ist doch ein guter Mensch. Und ich kann ihm schreiben, dass Mathilda völlig in Ordnung ist. Das werde ich ihm schwören. Auf dem rosa Briefpapier, das Mathilda mir geschenkt hat. Und dann schreibt mir der Führer zurück. Er ist ein guter Führer. Dann wäre Papa auch wieder versöhnt, vielleicht sogar stolz auf meinen Mut.
Doch dann gibt es plötzlich Fliegeralarm. Ich höre schon das Motorengeräusch eines einzelnen, sehr tief fliegenden Bombers. Die Flak schießt, und ich habe Angst und renne nach unten. Im Keller zieht Mama mich an sich und legt ihren Arm um mich. Hans liegt auf dem Bett und blättert in den Karten seines neuen Quartetts.
Die Flugzeuge der deutschen Luftwaffe.
Papa sitzt auf seinem Stuhl am Tisch und liest in einer Zeitung. Er ist ganz ruhig. Vielleicht ist doch alles nicht so schlimm.
4. Antonius Ackermann und Fräulein Steinbrede
Ich versuche, nicht mehr an Mathilda zu denken. Ich meide die Promenade und den Weg vorbei am geheimen Briefkasten. Mein Schulweg führt jetzt durch die Stadt. Ich fahre mit dem Rad über die Telgter Straße, den Prinzipalmarkt und die
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