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Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel

Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel

Titel: Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Zöller
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mit der Epoche der Aufklärung.« Er macht eine kurze Pause und hebt bedeutungsvoll die Stimme. »
Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.
Dieser Satz stammt von einem berühmten Deutschen. Immanuel Kant, 1724 in Königsberg geboren, 1804 dort gestorben.« Herr Ackermann schreitet durch die Klasse zurück zum Pult. Es sieht so aus, als mache er einen Spaziergang. Er schlendert, schaut sich um und bleibt unter dem Bild des Führers stehen.
»Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.«
Er wippt leicht auf den Fußspitzen.
    Es sieht aus, als würde er jede Einzelne in der Klasse bei diesen Worten ansehen. »In der Epoche der Aufklärung geht es um die Vernunft. Kant sagt:
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Damit wollen wir uns in den nächsten Stunden beschäftigen. Mit der Aufklärung, dem Denken und der Vernunft.«
    »Ich weiß nicht, das hört sich alles ziemlich seltsam an«, unterbricht ihn Franziska. »Irgendwie jüdisch.«
    »Also, Kant war kein Jude. Und immerhin hat der Führer Kant gelesen. Zumindest wird das gesagt.«
    »Nein, Herr Ackermann. Ich meine ja nicht diesen Kant. Ich meine diese ganze Philosophie. Das ist doch verlorene Zeit, weil so ein Gequatsche unnütz ist. Wir wissen doch, was wir wollen. Und wenn nicht, dann sagt es uns unser Führer.«
    Einige nicken zustimmend.
    »Unnützes Gequatsche? So? Und was hältst du von dem Satz:
Handle stets so, dass das Gesetz deines Handelns zugleich auch allgemeines Gesetz werden könnte?
«
    »Ist das auch von diesem … Kant?«
    »Ja. Das ist der kategorische Imperativ.«
    »Imperativ. Kategorisch.« Franziska spuckt die Worte förmlich aus. »Ich verstehe davon nichts. Und mir reicht es zu wissen, dass der Führer mit meinem Handeln einverstanden ist und es billigt. Der Wille des Führers bestimmt mein Handeln.«
    Sie sieht Herrn Ackermann herausfordernd an. Bei der Steinbrede hat im Unterricht nie einer eine andere Meinung. Da sitzt der Rohrstock viel zu locker.
    Herr Ackermann bleibt erstaunlich gelassen. »Das wird ja richtig spannend mit euch. Ihr könnt und ihr sollt ja auch an den Führer glauben. Aber kein Mensch darf das eigenständige Denken dabei vergessen. Und wir Deutschen sind doch wahrhaftig nicht denkfaul.«
    Franziska schweigt. Mit Ackermanns Beharrlichkeit und Ruhe scheint sie nicht gerechnet zu haben. Ich sehe, dass sie unter der Bank die Fäuste ballt. Wie ich Franziska kenne, wird da sicher noch was kommen. So leicht lässt die sich nicht unterkriegen.
    Er fährt mit dem Unterricht fort, breitet vor uns historische Fakten, philosophische Annahmen, ganze Ideen- und Weltbilder aus. Wir wandern durch die Weltgeschichte. Die meisten hören ihm aufmerksam zu. Nur Franziska rollt zwischendurch immer wieder mit den Augen, runzelt die Stirn und schaut, nach Zustimmung und Unterstützung suchend, zu mir herüber. Ich weiche ihrem Blick aus, denn ich finde den Unterricht großartig. Und obwohl alle Philosophen, von denen er spricht, tot sind, ist sein Unterricht doch um einiges lebendiger als etwa bei Herrn Wessels.
333
 – bei Issos Keilerei
oder
375
 – das Volk macht sich auf die Strümpf
ist auch nur einmal lustig.
    Bei Herrn Ackermann werde ich nachdenklich. Der ist gut gelaunt und sagt: »Da ihr denkende Menschen seid und bleiben sollt, bin ich sogar verpflichtet, euch von der Geschichte der Menschen und ihres Denkens zu erzählen. Der Führer will keine Dummköpfe.« Natürlich will der Führer keine Dummköpfe, und wenn ich ein Dummkopf wäre, wäre ich jetzt sicher noch nicht Schaftführerin.
    Franziska meldet sich wieder. Sie gibt einfach nicht auf. »Also, Herr Ackermann, was der Führer will, ist wohl klar. Vor zwei Jahren begann der Krieg. Unsere Soldaten kämpfen gegen den Bolschewismus * und wir in der Heimat gegen die Juden. Ich finde, davon sollte der Geschichtsunterricht handeln.«
    »Nun, ich finde, dass der Krieg unser Leben schon genug bestimmt.« In Herrn Ackermanns Stimme mischt sich nun doch etwas Ungeduld und Ärger.
    Für den Rest der Stunde grinst Franziska vor sich hin. Sie hat es mal wieder geschafft, jemanden auf ihre Art herauszufordern.
    Nach dem Unterricht kann sie es nicht lassen, mir zu zeigen, dass sie unzufrieden mit mir ist.
    »Etwas mehr Unterstützung hätte ich von meiner Schaftführerin schon erwartet. Merkst du nicht, was der

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