Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
Einzigen, die heute zu einem Landeinsatz fahren, und so ist der Bahnhof voll mit BDM -Mädeln und Hitlerjungen. Soldaten mischen sich darunter und einige Reisende in Zivil. Es ist eng und laut, und ich bahne mir den Weg zu unserem Abfahrtsgleis. Gertrud, Hedwig und einige andere warten bereits unter der Uhr. Es können nicht alle mitfahren. Franziska bleibt zu meiner stillen Freude zu Hause. In vier Minuten muss die Mädelschaft angetreten sein, und ich hoffe, ich kann in diesem Durcheinander dafür sorgen, dass wir alle beisammenbleiben. Die Mädels sind pünktlich, der Zug ist es nicht. Mit zehn Minuten Verspätung fährt er schließlich fauchend und zischend ein. Es riecht rußig nach verbrannter Kohle.
Der Schaffner weist uns zwei Abteile dritter Klasse zu, und wir machen es uns auf den harten Holzbänken, so gut es geht, bequem. Die Lok fährt an und nimmt schnaufend ihren Weg bergauf durch die herbstlichen Baumberge. In Nottuln angekommen, wartet bereits der Knecht des Hofes mit einem Leiterwagen mit Pferdegespann auf uns und bringt uns zu einem hoch gelegenen Hof, ziemlich weit außerhalb des Ortes. Kein Nachbarhaus ist zu sehen.
Sonnenblumen stehen im Garten, bunte Astern und Dahlien leuchten uns entgegen. Die Zweige der Apfelbäume biegen sich unter der Last der Früchte, und die Pflaumen hängen dick und blau im Geäst. Ich schmecke schon den Pflaumenkuchen. Ein Paradies! Die Bäuerin, Frau Schulze-Dickhoff, begrüßt uns heiter und führt uns zu einer Bodenkammer. Hier ist fein säuberlich Stroh aufgeschüttet, Bettlaken sind darüber gespannt. Dicke braune Decken liegen zusammengefaltet für jeden am Fußende. Die Sonne scheint durch ein kleines Dachfenster.
»Richtig gemütlich ist es hier«, schwärmt Gertrud und belegt die Strohmatratze neben meiner.
»Zieht euch um«, ruft Frau Schulze-Dickhoff in breitem Plattdeutsch, »dann kommt runter. Ich zeige euch den Hof.«
Die Mahlzeiten werden an einem langen Tisch auf der Tenne eingenommen. Hier gibt es auch eine abgetrennte Waschmöglichkeit. Das Plumpsklo ist hinter dem Haus.
»Und wenn ihr nachts mal müsst, geht einfach in den Kuhstall.«
Die Bäuerin beendet ihren Rundgang und bringt uns zu ihrem Mann auf die Kartoffelfelder. Die Ernte ist bereits in vollem Gange. Jede bekommt einen Drahtkorb in die Hand, und los geht’s. Anfangs singen wir noch Lieder, die uns gerade in den Kopf kommen, dreistimmig sogar. Doch gegen Mittag verstummt unser Gesang, und wir klauben schon müde die Kartoffeln aus den Furchen. Das Essen wird aufs Feld gebracht: Kartoffelbrei, helles Brot mit Schinken und Birnenkompott!
»So was Leckeres hab ich schon ewig nicht mehr gegessen«, schwärmt Hedwig und langt ordentlich zu.
»Das kommt von der Arbeit an der frischen Luft«, sagt Bauer Schulze-Dickhoff.
Kartoffeln aufsammeln, Obst ernten, Garten umgraben, Hecken beschneiden, Tiere versorgen, putzen, waschen und, und, und … Abends sitzen wir entweder vor der Tenne oder in der Bodenkammer. Der Ausblick ist grandios. Wir sehen, wie die Flugzeuge über das verdunkelte Münster hinwegfliegen, wie andere ihre Bombenlast über dem Ruhrgebiet abwerfen. Wir schimpfen auf die Engländer und begrüßen jubelnd das Flakfeuer, das wie Feuerwerk in den dunklen Nächten leuchtet. Hier auf dem Hof fühlen wir uns sicher.
Gertrud und ich reden abends noch lange miteinander. Es ist uns egal, wenn die anderen ständig »Ruhe!« rufen und uns mit Socken oder sonstigen Kleidungsstücken bewerfen, damit wir endlich die Klappe halten. Und eines Nachmittags, als wir beide zur Gartenarbeit eingeteilt und unter uns sind, will ich ihr von Mathilda erzählen.
»Kannst du etwas für dich behalten?«, frage ich und behalte sie genau im Auge.
Gertrud sieht mich neugierig an. »Na, klar. Das weißt du doch.«
»Ja, aber du musst es mir hoch und heilig schwören. Ich bestehe darauf.«
»Ich schwöre!«
»Bei allem, was dir lieb ist.«
»Ich schwöre, ich schwöre. Jetzt mach es doch nicht so spannend!«
»Kannst du dich noch an meine ehemalige Freundin Mathilda Schubert erinnern?«, frage ich vorsichtig. Wenn Gertrud jetzt über die Juden herzieht, rede ich einfach nicht weiter.
»Mathilda Schubert? Natürlich kann ich mich an die erinnern. Ich mochte sie. Stimmt es, dass ihre Mutter Jüdin ist? Franziska hat mal so etwas erzählt …«
Ich entdecke keine Ablehnung, keinen Abscheu in ihrem Gesicht. Und da erzähle ich ihr, dass ich immer noch mit Mathilda befreundet bin, dass sie
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