Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
feucht. Sie hat geweint, und ich habe es nicht bemerkt.
»Was ist, Gertrud? Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein, nein, hast du nicht. Aber anders als du muss ich immerzu an den Krieg denken. Im Sommer haben wir vor den Trümmern unseres Hauses gestanden. Das Dach war weg. Der Giebel lag auf der Straße, und oben stand mein verkohlter Puppenwagen. Wir hatten nichts mehr. Nur noch das, was wir am Leibe trugen. Und was ist, wenn ich gleich in die Sonnenstraße komme und sehe, dass das Haus wieder zerbombt ist? Und Mama liegt unter den Trümmern?«
Sie schluckt wieder. »Ich weiß, dass es nicht so sein wird, denn das hätte ich erfahren. Nottuln ist schließlich nicht aus der Welt.« Sie senkt die Stimme. »Ich habe Angst vor jeder Nacht, wenn die Flieger kommen.«
Ich lege meinen Arm um Gertrud, und sie schmiegt sich hinein. Der Zug holpert über Weichen, wird langsamer.
Angst vor der Nacht? Mathilda hat mir mal gesagt, dass sie Angst vor jedem Tag hat. Schließt ihre Angst die Nacht mit ein? Hat Mathilda am Tag und in der Nacht Angst? Der Zug fährt in den Bahnhof ein. Wir werden sofort hinaus auf den Bahnsteig gedrängt.
Vor dem Gebäude treten die Mädchen in Zweierreihen an, und nach einem kräftigen »Heil Hitler!« trennen wir uns.
Gertrud wird von ihrer Mutter abgeholt, und sie lacht glücklich und befreit. Mich holt niemand ab, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Es sind nur fünf Minuten zu Fuß, und Mama und Hans sind zu Hause, als ich die Haustür öffne.
»Hallo, meine Große.« Meine Mutter läuft mir entgegen, nimmt mich in den Arm und schaut mich an: »Gut siehst du aus. Nach viel frischer Landluft und genug zu essen.«
»Das kann man wohl sagen«, schwärme ich, und mit einem Blick auf Hans reibe ich mir den Bauch. »Aber seht mal, ich habe euch etwas mitgebracht.« Ich ziehe aus meinem »Affen« einen Beutel mit Kartoffeln, Äpfeln, Pflaumen, je einem kleinen Stück Butter und Speck. »Das hat jede von uns bekommen.«
»Großzügig«, sagt Mama.
»Lecker«, schnauft Hans und streckt schon seine Hand aus. Er macht sich mit einer Handvoll Pflaumen aus dem Staub.
»Lass ihn laufen«, sagt Mama, als ich hinter ihm her will. »Für einen Pflaumenkuchen für Oma und Opa reicht es noch. Wir müssen die restlichen Pflaumen nur gut verstecken.« Mama und ich müssen lachen, denn das Versteck für Essbares, das Hans nicht findet, müsste schon auf dem Mond oder noch weiter weg sein.
»Wann holt ihr Oma und Opa?«, frage ich. Beinahe hätte ich die Fahrt meiner Eltern nach Berlin vergessen!
»Nächsten Samstag. Und am Sonntag fahren wir. Ich bin schon so aufgeregt.« Mama strahlt mich an.
»Das glaube ich. Ich wäre auch aufgeregt, wenn ich mitfahren dürfte.« Ich setze mit Absicht meinen Schmollmund auf.
»Jetzt komm, Paula. Wir haben doch schon darüber gesprochen. Erstens müsst ihr in die Schule, und zweitens haben wir in Berlin viele Termine …«
»Ja, ja, ich weiß –
und wenn der Krieg vorbei ist …
«
»Genau. Komm, ich zeig dir was.« Meine Mutter zieht mich die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer. Und da hängt es auf einem Bügel an ihrem Kleiderschrank: das Kleid aus dem Modejournal, mit schmaler Taille, an den Hüften gerafft und – mit Fledermausärmeln! Ein Traum!
»Woher hast du denn den Stoff?«
»Papa hat ihn mir besorgt«, antwortet sie. »In meiner Frauenschaft habe ich eine Schneiderin aufgetan, Frau Engel. Ein wirklicher Engel, nein, eher eine Künstlerin, wie du siehst.« Meine Mutter fächert die Ärmel auseinander. »Papa hat auch noch andere Stoffe mitgebracht. Für dich können wir einen Hosenrock und eine Bluse nähen lassen.« Sie macht eine kleine Pause. »Vielleicht eine Bluse, dass du endlich einmal die Brosche trägst.«
»Ja«, stottere ich, »das wäre sicher eine gute Gelegenheit. Aber jetzt fahrt ihr erst einmal nach Berlin.« Auch wenn ich Papa enttäusche, ich bleibe bei meiner Meinung, die Brosche gehört Mathilda.
Am Samstag fahren meine Eltern nach Warendorf, um Oma und Opa abzuholen. Sie sind noch nicht wieder zurück, als am frühen Nachmittag ein neuer Fliegeralarm ertönt. Ich sitze mit Hans vor dem Radio. Wir hören von schweren Bombenangriffen auf Hamburg. Und ausgerechnet heute wird Münster wieder angeflogen!
»Hoffentlich sind Mama und Papa jetzt nicht gerade mit Oma und Opa auf der Straße zwischen Warendorf und Münster unterwegs«, rufe ich und renne mit Hans in den Keller.
Wir haben noch unsere Hausschuhe an, obwohl
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