Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
Lauschen sie wie ich? Vorne am Grammophon sitzt Fräulein Nottebaum, die Augen geschlossen. Sie wiegt den Kopf leicht im Rhythmus der Musik, und mit den Händen schwingt sie einen imaginären Taktstock. In der Klasse ist es still, alle hören auf die Musik, hängen ihren Gedanken nach oder kritzeln Strichmännchen auf die Blätter in ihren Heften.
Emmy und Franziska schauen in Fräulein Nottebaums Richtung, tuscheln miteinander und grinsen. Sie machen sich mit Gesten über ihr Versunkensein lustig, aber ich weiß genau, sie würden nie etwas Boshaftes über sie sagen. Fräulein Nottebaum ist die einzige Lehrerin, die wir alle uneingeschränkt mögen.
Neben mir sitzt Gertrud, ebenfalls mit geschlossenen Augen. Ihr Mund ist leicht geöffnet, und plötzlich dringen leise Schnarchgeräusche an mein Ohr. Meine Andacht ist dahin, und trotzdem machen die Töne meine Gedanken leichter … Habe ich wirklich gestern Abend Herrn Berning in der Promenade gesehen? Hat das Dämmerlicht meinen Augen einen Streich gespielt? Ich werde auf jeden Fall heute noch zum Geheimbriefkasten schleichen. Wenn meine Briefe weg sind, ist das der Beweis, dass er der Bote ist.
Wundern würde es mich nicht. Immerhin hat er den Schuberts Astra und Mozart abgekauft. Er ist es auch gewesen, der mir gesagt hat, wie froh er über Mathildas und meine Freundschaft ist.
Die letzten Töne der Sinfonie verklingen. Fräulein Nottebaum öffnet die Augen und lächelt uns an.
»Schon erstaunlich«, sagt sie, »dass so ein vollendetes Kunstwerk den Titel
Unvollendete
trägt, nicht wahr?« Sie blickt jede von uns an. »Nun wünsche ich euch aber erst einmal eine schöne Zeit, und nach den Ferien besprechen wir dieses Werk ausführlich.«
»Hast du gut geschlafen?« Ich verlasse gemeinsam mit Gertrud die Schule und lege ihr vertraulich eine Hand auf die Schulter. »Das nächste Mal schnarchst du bitte etwas leiser.«
Erschrocken sieht sie mich an. »Hat die Nottebaum etwa was gemerkt?«
Ich muss über Gertruds Gesichtsausdruck lachen. »Da mach dir mal keine Sorgen. Die war doch selbst völlig weggetreten.« Wir gehen noch ein Stück Weg gemeinsam.
»Sag mal«, beginnt Gertrud zögernd. »Was hat Franziska eigentlich neulich gemeint?« Ich weiß genau, was sie wissen will, lasse sie aber ein bisschen zappeln.
»Was meinst du?«
»Na, dass man dir nicht vertrauen könnte. Und dann das mit Werner und den Swings …«
Soll ich Gertrud einfach alles erzählen? Ich möchte so gerne jemanden haben, mit dem ich reden, dem ich alles anvertrauen kann. In solchen Augenblicken fühle ich mich unglaublich einsam.
»Nun, was ist jetzt?« Gertrud drängt.
»Ach, das. Das war nichts. Du kennst doch Franziska. Die muss sich doch immer wichtig tun. Erst recht, wenn es um Werner geht.«
In diesem Moment spüre ich, wie sehr Mathilda mir fehlt. Mathilda, mit der ich immer über alles reden konnte. Und jetzt bin ich allein und Mathilda wahrscheinlich auch. Briefe sind eben doch kein Ersatz. Was hat Mathilda mal gesagt? »Bei uns beiden ist eins und eins mehr als zwei. Es ist drei und vier und fünf.« Und sie hat mich dabei lachend in den Arm genommen.
Ich sehe Gertrud an, dass sie von meiner Antwort enttäuscht ist.
»Ehrlich, Gertrud. Das ist eine Sache zwischen Franziska und mir. Nichts Wichtiges.« Dabei sehe ich ihr direkt in die Augen und hoffe, dass sie meine Lüge schluckt.
Wir verabschieden uns bis zum nächsten Tag in der Schule. Ich schließe unser Gartentor, schaue Gertrud durch die Gitterstäbe hinterher, bis sie hinter der nächsten Biegung verschwunden ist. Dann mache ich mich auf den Weg zum Geheimbriefkasten. Die Mittagssonne verwandelt die herbstlich gefärbten Blätter der Linden in einen bunten Baldachin, der sich wie ein schützendes Dach über mir wölbt. Wie schön wäre es, wenn keine Bombe, keine Granate dieses Dach durchdringen könnte.
Ich balanciere über entwurzelte Baumstämme und schließe mit mir selbst Wetten ab: Wenn ich es schaffe, auf drei Baumstämmen nacheinander zu balancieren, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, hat jemand die Briefe für Mathilda abgeholt. Mit solchen Kinderspielchen erreiche ich schließlich den Löschteich. Viele Menschen sind bei diesem schönen Wetter unterwegs, aber niemand scheint mich zu beachten, wie ich zum Teich hinunterlaufe, mich in die Büsche schlage und schließlich den Baum erreiche.
Ich halte kurz an, schließe die Augen und flüstere: »Bitte, bitte, lass die Briefe weg sein.«
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