Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
Nie habe ich ihn schlecht über Juden reden hören, keine abfällige Bemerkung, keine Grobheiten.
»In der Schubert-Villa wohnen jetzt andere«, sage ich unvermittelt.
»Ja«, antwortet Herr Berning, und seine Stimme klingt traurig. »Sie vertreiben sie aus ihren Häusern und heften ihnen Sterne an.« Doch dann lächelt er wieder aufmunternd. »Das war aber gerade keine Frage.«
Da sprudelt es aus mir heraus. Ich erzähle ihm vom Geheimbriefkasten, von den Briefen, die so lange nicht abgeholt wurden, welche Sorgen ich mir um Mathilda mache. Davon, dass ich gestern endlich ein Lebenszeichen von Mathilda erhalten habe.
Und dann wage ich zu sagen: »Aber das wissen Sie sicher alles, nicht wahr?« Ich blicke ihn aufmerksam an, möchte sehen, wie er reagiert. Ich bin so sicher, dass er der Bote ist und mir mehr über Mathilda erzählen kann. Und Herr Berning erwidert meinen Blick, leichtes Erstaunen lese ich darin. Habe ich mich geirrt?
Seine Stimme ist klar und fest, als er sagt: »Verrenne dich nicht in deinen Vermutungen. Ich freue mich einfach nur für Mathilda, dass du zu ihr hältst und dich sorgst. Euer Geheimbriefkasten ist eine wunderbare Idee, den Kontakt zu halten. Aber ich rate dir, sei sehr vorsichtig.« Er hält kurz inne und wirft einen Blick in Richtung Stalltür. »Ich habe von Menschen gehört, die Familien wie den Schuberts eine Zuflucht bieten oder ihnen zur Flucht verhelfen. Ich habe aber auch erfahren, was mit ihnen passiert, wenn sie entdeckt werden.« Er legt seinen Arm um meine Schulter, als wolle er mich vor etwas Schlimmem beschützen. »Du musst gut auf dich aufpassen und darfst keine Spuren hinterlassen. Dein Vater ist Polizist, und er würde dein Tun niemals gutheißen. Deine Familie aber ist der einzige Schutz, den du hast. Das darfst du nie vergessen. So, und jetzt fahr nach Hause, bevor es dunkel wird.«
Wir gehen gemeinsam Richtung Stallausgang. Ich bin enttäuscht und doch froh, dass ich hier war, denn Herr Berning ist ein ganz besonderer Mensch.
»Ich würde dir gerne etwas mehr Hoffnung machen, aber das kann ich nicht. Alles, was wir brauchen, ist Zeit, Mut und Geduld«, sagt er zum Abschied. Beim Hinausgehen fällt mein Blick auf eine beige Jacke, die an einem Haken im Stall hängt …
Der schwarze Wagen ist inzwischen verschwunden. Etwas ratlos verlasse ich den Hof. Aber was genau habe ich eigentlich erwartet? Dass Berning mich zu Mathilda bringt und ich sie wiedersehe?
»Hast du vergessen, dass ihr morgen fahrt? Und du hast noch nichts gepackt!«, ruft mir meine Mutter aus der Küche zu, als ich nach Hause komme. Ihre Stimme klingt gereizt.
»Ach, das geht doch ruck, zuck. In den Affen passt eh nicht viel rein«, antworte ich. Der »Affe« ist mein mit Fell bezogener Rucksack.
»Dann hol ihn mal vom Dachboden runter. Ich helfe dir gleich.«
Ich laufe die Stufen hoch, ziehe mit der dafür vorgesehenen Stange die Dachluke auf und die Holztreppe herunter. Die Federn entspannen sich mit einem zittrigen Sirren. Vorsichtig steige ich die wackelige Stiege hinauf. Auf dem Dachboden stehen nur ein paar Umzugskisten, Koffer und Taschen. Sonst liegt der Staub dick auf den unbehandelten, rauen Bodendielen. Spinnweben verfangen sich zwischen den Dachsparren. An der linken Kopfseite ist ein kleines Dachlukenfenster. Es ist so verschmutzt, dass kaum Licht hereindringen kann. Ein ungemütlicher Ort. Schnell suche ich in den Kartons nach dem Rucksack und klettere die wackelige Treppe wieder hinunter.
Zügig ist alles verstaut. Auf der Fahrt tragen wir die Uniform; die Kleidung für die Feldarbeit und Wäsche zum Wechseln packe ich ein. Das Essgeschirr zurre ich auf dem Rucksackfell durch vier Lederösen mit Riemchen fest, die Feldflasche hänge ich an. Jetzt fehlt nur noch der Brotbeutel mit Verpflegung für die Fahrt und Besteck. Fertig. Dafür brauche ich Mamas Hilfe nun wirklich nicht mehr.
In dieser Nacht gibt es keinen Alarm, und so trudeln alle am nächsten Morgen nach und nach ausgeschlafen und mit bester Laune am Bahnhof ein. Mein Vater lässt es sich nicht nehmen, mich zu begleiten. Ein wenig mulmig wird es mir beim Abschied schon. Es ist Krieg, und wer weiß, was in zwei Wochen alles passieren kann.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagt er zum Abschied: »Mach dir keine Sorgen, Prinzessin. Uns wird nichts passieren. Und du bist auf dem Land erst recht in Sicherheit.« Dann nimmt er mich kurz in den Arm, wendet sich Richtung Ausgang und geht.
Wir sind nicht die
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