Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
seiner Pfeife. Es riecht nicht mehr nach Muckefuck.
»Ich habe nichts Unrechtes getan. Ehrlich. Ich habe überhaupt nichts getan, nur jemanden gesucht.« Meine Stimme hat keine Kraft mehr.
»Mädchen, red nicht so viel. Du kennst mich doch gar nicht.« Er lächelt. »Der Zug fährt erst morgen früh, kurz nach zehn. Vorher kommst du hier nicht weg, also bleibst du einfach hier, klar?«
Ich ducke mich und nicke.
Stunde um Stunde vergeht. Der Mond steht so ruhig am Himmel, als wäre nichts geschehen. Hin und wieder schieben sich Wolken davor. Wie spät ist es? Ich müsste nach Hause.
Aber ich hocke in meiner Ecke, und die hocken in ihren Waggons, wahrscheinlich eng zusammengepfercht. Mein Fuß schläft ein. Ich bewege mich trotzdem nicht. Ob die da drüben schlafen können?
Warten. Warten. Ich blase die Backen auf, dann werde ich oft ruhiger. Ich nicke ein, schlafe zwei Stunden, vielleicht drei. Das Geräusch eines knarrenden Stuhles weckt mich.
Der Morgen beginnt mit Geräuschen, vereinzelten Stimmen im düsteren Morgengrauen. Stiefelabsätze knallen. Ein Hammer schlägt auf Metall. Wasser rauscht in einen Kessel. Kurze Kommandos sind zu hören.
»Irgendwelche Vorkommnisse?« Das ist die Stimme meines Vaters direkt vor meinem Fenster, nur durch die Bretterwand von mir getrennt.
»Alles ruhig, Herr Major.«
»Ist er da drin?«
»Der Stellwerker? Ja. Er schläft. Soll ich ihn wecken?«
»Lassen Sie nur. Wenn die Lok unter Dampf steht, ist es früh genug.«
»Noch zwei Stunden, Herr Major.«
»Gut. Noch zwei Stunden. Sorgen Sie dafür, dass in den Waggons kein Geschrei und Gezeter aufkommt.«
»Jawohl, wird gemacht, Herr Major.«
Schritte entfernen sich. Der Eisenbahner sitzt auf seinem Stuhl und blickt zu mir herunter. Er legt seinen Zeigefinger auf die Lippen. Seine andere Hand bedeutet mir, ganz ruhig zu bleiben.
Ein Lastwagen fährt draußen vor. Wieder Stimmen und lautes Rufen. Vorsichtig hebe ich meinen Kopf und blicke hinaus.
Vor einem Lastwagen versammeln sich Wachleute. Aus einer Gulaschkanone wird Essen ausgegeben. Der Eisenbahner geht auch hinaus. Nach einer Weile kommt er zurück und hält mir sein Essgeschirr hin. Suppe. Ein Kanten Brot. Wurst. Und richtiger Kaffee. Ich schüttele den Kopf. Wie kann man jetzt an Essen denken.
»Du musst«, sagt der Mann. »Wenigstens den Kaffee. Du siehst furchtbar aus.«
»Wie lange braucht der Zug bis Riga?«, frage ich mit fast tonloser Stimme. Ich nehme einen Schluck. Er hält mir ein Stück Brot hin. Ich esse auch das.
»Drei Tage vielleicht. In Bielefeld und Osnabrück werden noch mehr Waggons angehängt. Deswegen vielleicht noch länger.« Dann schweigen wir wieder.
»Und die Waggons mit dem Gepäck mussten Sie abhängen?« Meine Stimme zittert, so wütend und so durcheinander bin ich. Dann hatte Mathilda recht.
Sie werfen sie in die Grube … Wir fahren in den Tod.
»Bleib vom Fenster weg.« Er erhebt sich bedächtig. »Ich gehe jetzt zum Stellwerk. Bewege dich hier nicht fort. Hier bist du sicher. Wenn der Zug gefahren ist, wartest du noch ein paar Minuten. Dann gehst du.«
»Danke«, sage ich.
»Wofür?«, fragt der Mann und öffnet die Tür einen Spalt.
Da höre ich gedämpft aus einem der Waggons eine dunkle, immer stärker ansteigende Männerstimme.
»Sei du bei uns!« Immer lauter schallt es über den ganzen Bahnhof: »Sei du bei uns!«
»Klappe!« Einer rennt hin, schlägt mit dem Gewehrkolben gegen die betreffende Tür. »Klappe oder es knallt! Kapiert?«
Die Stimme verstummt. Doch obschon jetzt Schweigen herrscht, hallt die Stimme noch nach. Sie bleibt über der Halle hängen, als sänge der Mann immer weiter:
Sei du bei uns!
Ein Arbeiter geht mit einer Ölkanne am Zug entlang. Mit dem Hammer schlägt er gegen die Achsen und überprüft die Schläuche zwischen den Waggons. Die Lok steht unter Dampf.
Der Lokführer sieht den Bahnsteig entlang und scherzt mit den Polizisten. Die lachen. Die lachen einfach! Dann setzt sich der Zug in Bewegung. Er schnauft, die Räder greifen, es quietscht und ruckt. Der Zug verlässt den Bahnhof.
Die Waggons mit dem Gepäck bleiben auf den Gleisen stehen.
Mein Fahrrad ist weg. Ich versuche mir vorzustellen, dass ein Polizist damit fröhlich pfeifend, vielleicht auch müde gähnend, durch die Stadt radelt. Mir ist kalt. Ich gehe zu Fuß. Der Mantel meiner Mutter schlottert um meine Knie, und ich schlage den Mantelkragen hoch. Über der Stadt liegt Nebel oder Schneeluft, eine graue
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