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Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel

Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel

Titel: Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Zöller
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Glocke, die alles zu erdrücken droht.
    Müde und trostlos trotte ich weiter. Eine Lokomotive rattert über die Unterführung und gibt ein gellendes Signal. Es dröhnt und donnert. Die Schienen rumpeln, und die Tunnelwände scheinen zu beben.
    Vor dem Hauptbahnhof stehen Männer mit harten Augen, die Hände in Manteltaschen vergraben, Lederkoffer zwischen den Füßen, und warten auf Droschken oder Straßenbahnen. Feldgrau gekleidete Soldaten mit Marschgepäck kreuzen meinen Weg. Ich mache ihnen Platz. Einer stolpert anzüglich grinsend auf mich zu. Er ist klein, breitschultrig und betrunken. Ein anderer hält ihn am Kragen und zieht ihn von mir weg.
    Vor unserem Haus zögere ich. Es liegt ruhig und still. Frauen mit Taschen in beiden Händen und kleinen Kindern im Schlepptau gehen an mir vorbei. Es ist Samstag. Markttag. Ich müsste in der Schule sein. Meine Mutter ist bestimmt auf dem Wochenmarkt am Dom.
    »Pass doch auf, Fräulein. Schläfst du im Stehen? Also wirklich.« Die Frau wirft mir einen ärgerlichen Blick zu. Sie hat mich angerempelt.
    Ich sehe nicht hin. Schlafen? Ich bin todmüde. Wie erschlagen. Aber wie könnte ich jetzt einfach ins Bett kriechen, mich wohlig einkuscheln und einschlafen? Ein Auto fährt vorbei. Zwei Jungen kommen die Straße herunter. Sie werfen sich einen Lederball zu.
    In Vaters Arbeitszimmer ist ein Flügel des großen Doppelfensters geöffnet. Die Vorhänge sind zugezogen und bauschen sich im Wind. Frau Weber ist zum Reinemachen da. Sie reißt immer die Fenster auf.
     
    Hinter mir klackt die Haustür leise ins Schloss. In der Küche klappern Töpfe. Die Tür zu Vaters Arbeitszimmer ist einen Spaltweit geöffnet. Es ist wohlig warm im Flur, und es riecht nach Zigarrenrauch.
    Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Frau Weber steckt ihren Kopf durch die Küchentür und wischt sich erschrocken die Hände an der Kittelschürze ab.
    »Mein Gott, Kind!«
    Die soll jetzt bloß den Mund halten. Ich lege einen Zeigfinger auf meine Lippen: »Pssst!«
    Meine Hand tastet nach dem Treppengeländer. Leise, auf Zehenspitzen und mit angehaltenem Atem, ziehe ich mich am polierten Geländer hinauf in mein Zimmer. Hoffentlich knarrt meine Tür nicht. Ich blicke mich um und horche nach unten.
    Da trifft mich etwas Hartes. Direkt über dem Ohr. Augenblicklich verliere ich die Kontrolle über meine Beine. Es ist, als reiße mich ein Strudel hinunter. Ich falle und knalle mit dem Ellenbogen voran in den Spiegel. Schwarze Flecken, Lichtblitze. Glas splittert. Ich knie schwankend auf dem Boden. Etwas Warmes läuft über mein Gesicht. Meine Hände tasten danach, und ich entdecke Blut an meinen Fingern.
    Wieder schlägt mir eine Hand ins Gesicht. Ich werde hochgerissen – und blicke in die Augen meines Vaters. Seine Fäuste halten mich am Mantelrevers. Er lässt nicht zu, dass ich wegsacke. Er hält mich, schüttelt mich, zwingt mich auf die Füße. Seine Lippen bewegen sich. Sagt er etwas zu mir? In meinem Kopf ist nur dumpfes Rauschen. Meine Hände greifen nach ihm und versuchen, sich festzuhalten. Es ist, als ob ich bei ihm Schutz suche – vor ihm selbst. Doch er stößt mich zurück und hält mich mit ausgestreckten Armen auf Abstand.
    »Mein Gott«, höre ich ihn aufstöhnen. Dann sofort: »Zieh dich um! Raus aus Mutters Sachen!«
    Er lässt mich los, ich taumele gegen den Schrank. Mein Vater steht in der Tür. Er trägt seine Uniform. Seine Hand liegt auf dem Türgriff. Eine Haarsträhne ist ihm ins Gesicht gefallen. Er streicht sie weg.
    »Zehn Minuten«, sagt er. »Dann trittst du an – vor meinem Schreibtisch.«
    Schwere Stiefel dröhnen auf der Treppe. Jetzt bin ich alleine. Eine dunkle Woge von Müdigkeit erfasst mich. Doch ich raffe mich auf. Mamas Mantel ist ruiniert. Ich ziehe ihn aus, lege ihn auf das Bett und setze mich. Zehn Minuten, hat er gesagt. Was will er? Weiß er alles? Weiß er, dass ich weiß? Oder hat er nur gemerkt, dass ich in der Nacht weg war?
    Aber dann wäre Mama nicht einfach so zum Markt gegangen.
    Ich drücke mir ein Taschentuch auf den pochenden Schnitt in meiner Stirn. Frau Weber ist in der Küche. Sie muss mir jetzt helfen. Wenn nur meine Mutter hier wäre. Ich krame in meinem Schrank und wühle einen Pullover hervor. Mir ist so kalt.
    Langsam gehe ich die Treppe hinunter, eine Hand auf dem Handlauf, den Kopf voller Fragen. Die Tür zum Arbeitszimmer steht weit offen. Ich sehe den Schreibtisch. Wuchtig, dunkel, leer und blitzblank.
    Vater sehe ich nicht. Frau Weber

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