Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
Kreuzung. Links von mir ist der Gertrudenhof und gegenüber das große Finanzgebäude mit seinem Glockenturm.
Meine Augen gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit. Meine Ohren nehmen gedämpfte Geräusche wahr. Ich atme in meinen Schal. Ich will mich nicht verraten.
An der Straßenecke stehen vier Möbelwagen der
Spedition Peters
. Sie sind blau lackiert. Ich erkenne
meinen
Umzugswagen. Die Pferde schütteln ihre blonden Mähnen und schnauben. Ihr Atem dampft, und sie scharren mit den Hufen. Sie sind unruhig. Die Kutscher stehen zusammen und rauchen. Aus der Warendorfer Straße kommen Fahrzeuge mit abgeblendeten Scheinwerfern auf die Kreuzung. Es sind kleine Omnibusse. Vielleicht acht oder zehn. Sie parken in einer langen Reihe, und die Fahrer öffnen die Türen zum Bürgersteig.
Aus der Schaltzentrale der Ordnungspolizei, kommt ein Trupp Uniformierter. Sie marschieren auf die Kreuzung zu und bilden ein Spalier. Sie haben Knüppel in den Händen und warten. Sie sind es gewohnt zu warten: auf den Vorgesetzten, auf einen Befehl, auf einen Becher Kaffee, auf die nächste Zigarette, auf die Ablösung. Warten, Ruhe, warten.
Ich darf mir nichts anmerken lassen, kann vor Aufregung kaum mehr ruhig stehen. Da erkenne ich meinen Vater. Er ist mitten zwischen den Uniformierten. Auch er trägt Reithosen und Schaftstiefel. Seine Hände hält er auf dem Rücken verschränkt. Auf einem offenen Lastwagen flammt ein Scheinwerfer auf. Die Schatten der Uniformierten werden an die Fassade des Finanzamtes geworfen. Mattes, gelbes Licht leuchtet die Kreuzung aus.
Eine Trillerpfeife ertönt. Jetzt geht es los. Ich zucke zusammen. Die Tür zum Kinosaal wird aufgerissen.
»Raus! Raus! Raus!« In einer langen Reihe stolpern Menschen auf die Straße. Gedränge und Geschiebe. Die Uniformierten bilden ein Spalier und treiben sie mit Knüppeln zwischen sich her wie Vieh. Die Menschen tragen Koffer, Rucksäcke, Pakete. Frauen klappern mit Kochtöpfen, drücken warmes Bettzeug an sich, Kinder schreien kurz auf, klammern sich an Röcke und Hosenbeine.
Ich kann keine Gesichter erkennen, sehe nicht, ob sie alt oder jung sind. Nur Röcke und Kopftücher, Hüte und Mützen tanzen vor meinen Augen, auch eine weiße Pudelmütze.
Gelb blitzen Judensterne auf. Darunter Nummern. Transportnummern? Wer sich nicht beeilt, bekommt Schläge. Wer etwas verliert und sich danach bückt, bekommt einen Tritt in den Hintern. Einige der Uniformierten genießen offenbar ihre Überlegenheit. Sie feixen, wenn jemand versucht, sich zu ducken, um wegzutauchen unter den Hieben. Doch die meisten wirken stumpf, schlagen zu und treten. Ihre Gesichter ohne Emotion. Sie tun nur das, was man ihnen befohlen hat.
Die Menschenreihe wird an den Umzugswagen entlanggedrängt. Nur das Gepäck soll auf die leeren Ladeflächen. Die Jüngeren helfen den Älteren, aber auch da setzt es Hiebe und bissige Bemerkungen.
Dann zu den Bussen. Die vielen Menschen werden in die viel zu kleinen Busse geschoben, gepresst, gequetscht.
Wo ist Mathilda? Wie ich mich auch recke und strecke, ich kann immer nur einen Bus im Auge behalten. Ist Mathildas Mutter unter diesen Menschen? Muss Mathilda ihre Mutter begleiten? Oder werden Halbjuden verschont? Ich tröste mich immer wieder mit einem solchen Gedanken. Aber Mathildas Brief klang anders.
Ich will die Gesichter der Menschen erkennen, um vielleicht Mathilda zu entdecken. Es ist unmöglich. Die Gestalten bleiben schemenhaft, werfen nicht einmal mehr Schatten, als wäre er ihnen schon geraubt worden in der Schwärze dieser gespenstischen Nacht.
Dann muss ich eben zum Güterbahnhof. Ich will vor den Bussen dort sein. Vielleicht kann ich dort näher heran.
Hals über Kopf mache ich mich auf den Weg mit weitem, wehendem Mantel. Der Güterbahnhof liegt zwischen zwei Tunneln. Auf dem Weg ist kein Mensch zu sehen. Ich trete in die Pedalen, bis ich japse. Mein Herz schlägt zum Zerspringen.
Räder müssen rollen für den Sieg
steht in großen weißen Buchstaben an einer Wand. Hinter dem ersten Tunnel biege ich nach links auf das Kopfsteinpflaster der breiten Verladestraße.
Am Ende der Straße stehen Schuppen. Der Platz zwischen den Gleisen ist überdacht. Eine riesige, offene, leere Halle. Funzelige Lampen hinter verdreckten Drahtgittern spenden spärliches Licht. Mein Fahrrad lehne ich an einen Pfeiler. Im Tunnel höre ich schon Motorengeräusche. Sie kommen!
Auf den Schienen steht ein Güterzug, die Waggons mit offenen Türen. Stumm und
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