Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
ruhiger, aber dafür glasklar: »Ich möchte von dir wissen, wo die Schuberts sind. Die Jüdin, die Halbjüdin und dieser feine Doktor. Wo sind sie?«
Mathilda war nicht auf dem Transport. Er weiß nicht, wo sie ist. Eine unglaubliche Last fällt von mir ab. Nein, mein Herz tut regelrecht einen Sprung. Ich könnte ihn umarmen, küssen. Er weiß gar nicht, was er mir da mitgeteilt hat. Aber der große Fragensteller kann keine Gedanken lesen. Das ist auch gut so.
»Ich weiß es nicht, Papa. Ich weiß wirklich nicht, wo die Schuberts sind.«
»Stell dir vor, das glaube ich dir sogar. Sonst wärst du ja gestern Nacht nicht am Güterbahnhof gewesen.« Er sagt das nachdenklich, fast mürrisch. Begreift er, dass er gerade einen Fehler gemacht hat, indem er mir verraten hat, dass sie nicht dabei waren? Er hat sich verplappert. Mathilda lebt. Wovor soll ich denn jetzt noch Angst haben?
»Aber du hast Nachrichten von ihnen. Von wem bekommst du sie? Wer hilft den Schuberts?«
»Ich weiß es nicht, ehrlich.«
»Du lügst. Du deckst Volksverräter. Ist dir das überhaupt klar? Das ist ein Verbrechen.«
Jetzt begreife ich, dass er nicht lockerlassen wird.
Die Angst ist wieder zurück. Sie kriecht mir unendlich langsam den Rücken hoch. Und doch, es ist eine andere Angst. Es ist die Angst um mich selbst. Er will etwas von mir. Er bedroht mich.
Aber die Angst schärft auch meine Sinne. Sie ist ein guter Ratgeber. Ich werde auf der Hut sein. Ich werde eisern schweigen.
»Paula«, seine Stimme klingt auf einmal wieder sanft. »Es geht doch um unsere Volksgemeinschaft. Du hast einen Eid auf den Führer geschworen. Wir sind im Krieg, Paula. Die Soldaten an der Front und wir hier in der Heimat. Wir kämpfen für eine gemeinsame Sache. Das schweißt uns zusammen. Paula, es ist deine Pflicht, mir die Wahrheit zu sagen.«
Ich will gar nichts sagen. Ich will, dass Mama nach Hause kommt. Ich will ihm auch nicht mehr zuhören. Ich will, dass das alles hier aufhört.
»Du verprügelst Menschen«, sage ich. Ich bin selbst erschrocken über die Schärfe in meiner Stimme. »Du stiehlst und du organisierst Transporte in den Tod.«
»Du wagst es?« Seine Stimme ist dunkel, alle Sanftheit ist in diesem Augenblick daraus verschwunden. »In meinem Haus wagst du es, mir so zu antworten?«
Er baut sich vor mir auf. Riesig. Die Hände in die Taille gestemmt, ist er über mir.
»Dein Haus? Das gehört doch alles anderen Menschen. Die Bücher, die Bilder, die Möbel, Mathildas Brosche. Alles gestohlen.«
Ich balle die Fäuste. Ich weiß nicht, wohin mit meiner Enttäuschung.
Da ist es: Vaters anderes, unbekanntes Gesicht, das ich im Traum gesehen habe.
Und das soll mein Vater sein? Ich bin so verwirrt.
Schläge prasseln auf mich nieder. Schläge mit dem Lineal. Sie treffen mich am Rücken, an den Beinen. Ich klammere mich an einen Stuhl und höre mich schreien. Mein Vater schlägt weiter. Der Stuhl kippt um, meine Beine knicken ein wie Streichhölzer. Mein Vater tobt. Ich versuche, meinen Kopf zu schützen, mache mich klein und rolle mich zusammen.
Er schlägt jetzt gezielter.
Ich zähle die Schläge.
Was hat er vorhin gesagt? Bei zwanzig Schlägen wird ein Arzt hinzugezogen? So steht es in seinem grauen Heft. Alles nach Plan, alles geregelt.
»Erich, hör auf! Du schlägst unsere Tochter tot!« Wie durch einen Nebel höre ich Mutters Stimme. Sie beugt sich zu mir herunter, will mich schützen. Doch Vater stößt sie weg, lässt es nicht zu.
»Misch dich nicht ein! Sie bekommt nur das, was sie verdient!«
Ich versuche mit letzter Kraft, mich aufzurichten. Da trifft mich ein Schlag an der Schläfe, und alles wird schwarz.
Ich erwache wie aus einem langen Traum. Einige Sekunden lang habe ich Herzklopfen, Angst. Mir ist heiß, und gleichzeitig friere ich. Wenn nur dieses Zittern nicht wäre. Mein Mund ist trocken, und die Zunge klebt mir am Gaumen. Ich wage es kaum zu atmen. Jede Bewegung schmerzt. Wo bin ich?
Trübes Licht fällt durch eine vergitterte Luke in den Raum. Staubflocken tanzen träge darin, schweben herab. Regen prasselt, und Wasser rauscht gurgelnd in eine Rinne. Grelle Blitze zucken und werfen kurze, gespenstische Schatten. Es donnert. Über mir sind grobe, dicke Balken und schräge Wände, die sich hoch über mir treffen. Ich starre hinauf.
Das ist das Dach unseres neuen Hauses. Im Licht der Blitze kann ich das wellenförmige Muster der dunkelroten Dachpfannen erkennen. In der Mitte steht der riesige Kamin.
Weitere Kostenlose Bücher