Vatikan - Die Hüter der Reliquie (German Edition)
zum Klopfen bereite Faust. In ihrer Linken trug sie eine dampfende Schüssel, in der ein Stück Brot steckte. Schwester Theresa nahm sie ihr ab.
»Danke, Dolores. Du darfst dich jetzt zu Bett begeben.« Dolores verbeugte sich und verschwand. Schwester Theresa schloss die Tür. Eines ihrer Geheimnisse kannte ich nun. Sie hatte ein außergewöhnlich gutes Gehör.
Es erstaunte mich, dass sie die Suppe auf dem Tisch abstellte und nicht zu mir ans Bett brachte. »Zehn Nächte, Lucienne. Zehn Nächte, und auch jetzt verspürst du keinen Hunger.«
Ich verstand nicht, worauf sie hinauswollte.
»Jeder Mensch, der nur nach einem Tag, aber spätestens nach zwei Tagen ohne Nahrung, diese Suppe wittern würde, hätte sich darauf gestürzt. Macht dich das nicht nachdenklich?«
Prüfend sah sie mir in die Augen. Ich hielt ihrem Blick stand. Ich hatte mir nichts zuschulden kommen lassen.
»Ich habe zehn Tage und Nächte an deinem Bett verbracht. Aus irgendeinem Grund benötigst du keine Nahrung mehr.« Da ihr mein ratloses Gesicht nicht weiterhalf, wechselte sie das Thema. »Lisette hat mir von der Flucht berichtet und von dem Ende, die sie genommen hat.« Schwester Theresa bekreuzigte sich.
Ich fühlte Tränen in mir aufsteigen, aber mein Gesicht blieb trocken.
»Erzähl es noch einmal, Lucienne. Vielleicht kann ich dir helfen, wenn ich verstehe, was geschehen ist.« Sie seufzte. »Ich wollte Lisette nicht überfordern. Das, was sie mir berichtete, fiel ihr sichtlich schwer.«
Ich begann mit dem zerbrochenen Krug und endete am Brunnen.
Schwester Theresa nickte. »Die Männer und Lisette sehen in dir ein Wunder. Ich dachte zunächst auch so.«
»Was denkt Ihr jetzt?« Ich fürchtete mich vor der Antwort.
»Heute denke ich anders.« Schwester Theresa setzte sich an den Tisch und rührte in meiner Suppe. Ihr Benehmen erstaunte mich. Erst orderte sie Essen für mich, dann aß sie es selbst. Mein Blick streifte das Kruzifix und ich wendete mich stöhnend ab. Meine Gedanken überschlugen sich. Warum behauptete Schwester Theresa, ich würde nie Essen benötigen? Was meinte sie mit anders ? Was dachte sie wirklich? Noch etwas wurde mir klar. Die Oberin hatte Angst. Ich mittlerweile auch. Schwester Theresa wischte mit dem Brot die Schüssel aus und drehte sich zu mir. »Morgen schicke ich dir Lisette, jetzt schlaf.« Schwester Theresa räumte den Tisch ab und verließ den Raum. Ich hörte, wie sie die Tür abschloss, und war erstaunt. War ich eine Gefangene? Diese Frage war die erste von tausenden. An Schlaf war nicht zu denken. Ich stand vorsichtig auf und trat ans Fenster. Ich starrte in die Nacht, die sich über das Kloster ausbreitete, und verspürte mit einem Mal solche Sehnsucht, dass ich meinte, ich würde in den Himmel fliegen können. Ich hörte die Stimmen der Nacht, wie sie summten und raschelten, atmete die Kühle durchs Fenster und fühlte mich eins mit der Schwärze.
Ich würde nichts mehr zu essen brauchen. Dieser Gedanke drehte sich in meinem Kopf. Ich verstand ihn nicht. Erst, als sich die Sonne mit ihren ersten Strahlen bemerkbar machte, wurde ich ruhiger und legte mich schlafen. Spät am Nachmittag, die Sonne hatte ihren Tageslauf hinter sich, wurde ich wach. Lisette saß zappelnd an meinem Bett.
»Na endlich«, sagte sie. »Die Oberin hat gesagt, dass du erwacht bist und jetzt sitze ich hier und kann dir wieder beim Schlafen zusehen.« Gespielt empört verzog sie ihr Gesicht, das mir voller Liebe entgegenblickte. Liebevoll und noch etwas: Heiliger Ernst und Respekt lagen in ihrem Blick.
»Ach, Lisette!« Ich nahm sie in den Arm, bis sie wie ein Fisch zappelte. Dann betrachtete ich sie von Kopf bis Fuß. Sie trug nicht mehr das Kleid, das wir vom Wirt bekommen hatten. Sie trug die Kleidung einer Novizin und sah darin entzückend aus.
»Willst du Nonne werden?« Ich wollte sie damit aufziehen.
Ihre Gegenwart erfrischte mich. Alle düsteren Gedanken waren verschwunden. Lisette würde mir alles erklären können.
»Was waren das für Männer, mit denen du zusammen warst?«, fragte ich aufs Geratewohl. Mit irgendeiner Frage musste ich ja beginnen.
Lisette sah mich gequält an. »Die Oberin hat gesagt, ich soll dich nicht aufregen.«
»Erzähl schon.« Ich drückte ihre Hand. Eine fiebrige Nervosität hatte mich überkommen. Ich sah Lisette ins Gesicht und bemerkte, dass ich sie erschreckte.
»Die Oberin wird schimpfen, wenn sie sieht, wie du dich aufregst. Beruhige dich, Lucienne«, sagte sie und sah
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