Vatikan - Die Hüter der Reliquie (German Edition)
eine sehr ordentliche Schrift, Lucienne. Du könntest mir helfen, diese Werke zu vervielfältigen. Bisher arbeite ich hier allein, abgesehen von Schwester Valerie, die begnadete Bilder malen kann.«
Ich sah mich erstaunt um. So entsprang das Bild von reger Beschäftigung und emsigen Nonnen nur meiner Fantasie und Schwester Theresa arbeitete hier ganz allein, und das, obwohl sie noch das Kloster führte? Ich glaube, dies war der Moment, als ich anfing, sie zu verehren. Erst später begriff ich, dass sie neben den Übersetzungen und den Vervielfältigungen noch eigene Bücher schrieb. Sie musste mehr Zeit haben als andere Menschen. Sie war das Wunder. Von diesem Moment an wollte ich alles tun, damit ich sie entlasten konnte. Sie sah es wohl in meinen Augen, denn sie nickte und lächelte mir zu.
»Du bist mir keine Last, Lucienne. Eine Prüfung vielleicht, aber keine Last.«
»Ich werde Euch bis zu unserer Abreise gern helfen.«
»Du willst nach Dos Campanilles?« Sie schüttelte den Kopf und ging an ihr Pult zurück. »Ich halte das für keine gute Idee. Wie willst du de Segura deinen Zustand erklären? Du benötigst keine Nahrung und verträgst kein Sonnenlicht. Auch wenn du es nicht hören willst: Dein Verhalten verträgt sich nicht mehr mit dem der Lebenden.«
Ich nahm ihre Worte zur Kenntnis, hörte und verstand sie, aber ich akzeptierte sie nicht. Ich schrieb weiter, gab mir dabei große Mühe und lenkte mich von meinen trüben Gedanken ab. Schwester Theresa verabschiedete sich, kurz bevor auch ich mich zur Ruhe begeben musste. Ich sah es am leichten Schimmer im Osten. Mein letzter Gedanke gehörte dem Buch, in dem ich gelesen hatte. Vielleicht könnte ich es weiterführen. Mit meinen eigenen Erfahrungen. Dieser Gedanke war erschreckend, aber aufregend.
In der nächsten Nacht saß Lisette an meinem Bett, als ich erwachte. Sie war aufgebracht. »Schläfst du jetzt immer den ganzen Tag?«, fragte sie, noch bevor ich mich aufgesetzt hatte. »Ich dachte, du wärst wieder gesund.«
Ich fühlte mich überfordert. »Ich vertrage das Sonnenlicht nicht mehr und die damit verbundene Lebensfreude«, erklärte ich lahm und hoffte, Schwester Theresas Wortlaut wiederholt zu haben. Lisette sah mich verwundert an. Ich erkannte, dass sie mir nicht glaubte.
»Das hat mir die Oberin auch schon erzählt. Gerade heute Abend sind deine Wangen gerötet und du siehst viel lebendiger aus als in der letzten Zeit. Ich mag nicht mehr länger hier bleiben. Ich finde das Kloster grässlich.«
»Lisette! Überleg dir, was du sagst. Die Oberin hat uns so herzlich aufgenommen. Sei nicht undankbar.«
Lisette murmelte etwas, was ich nicht verstand. »Ich will nach Dos Campanilles. Salvadors Vater mag auch nicht länger warten. Wie lange brauchst du denn noch, bis du gesund bist?«
Ich seufzte gleich zweimal. Einmal, weil ich die Frage nicht beantworten konnte und das zweite Mal, weil sich die Tür öffnete und Schwester Theresa eintrat.
Lisette wandte sich an die Oberin. »Wie lange dauert Luciennes Genesung denn noch?«
Schwester Theresa stellte eine Schüssel Gemüseeintopf auf dem Tisch ab. »Das kann ich nicht sagen. Allerdings kann ich auch nicht sagen, wie lange es dauert, bis euer Onkel Antwort gibt.«
Ich sah überrascht zu Lisette. Ich hatte die Existenz unseres Onkels völlig vergessen.
Schwester Theresa bemerkte mein Erstaunen. »Ich habe ihm geschrieben. Er ist euer Vormund, seit euer Vater tot ist.«
Ich gab ihr recht, doch ich seufzte innerlich. Mein Gesicht muss Bände gesprochen haben, denn Schwester Theresa sprach mich darauf an, nachdem sich Lisette verabschiedet hatte. Zwischen zwei Löffeln Gemüseeintopf, den sie aus taktischen Gründen selbst aß, nahm sie das Thema wieder auf. »Was ist mit eurem Onkel? Trinkt er?«
»Ich habe ihn nur ein einziges Mal gesehen. Das war vor ein paar Jahren. Aber ich war froh, als er wieder weg war. Er war seinem Bruder sehr ähnlich.«
Schwester Theresa sah mich nachdenklich an und blieb einsilbig, als wir später zur Bibliothek gingen.
Meine Arbeit dort bereitete mir immer mehr Freude. Ich gewann neue Erkenntnisse aus meiner Lektüre, aber ich bemerkte auch viel an mir. Ich veränderte mich. So verbesserte sich mein Gehör. Ich war in der Lage, Gespräche zu hören, die hinter geschlossenen Türen stattfanden, obwohl die Klostermauern und Türen dick waren. Meine neue Fähigkeit erschreckte, aber faszinierte mich auch. Wenn ich mich in Schwester Theresas oder Lisettes
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