Vatikan - Die Hüter der Reliquie (German Edition)
einschlafen. Ich bin mir sicher, dass es dir möglich ist. Du hast schon so viel geschafft. Gott ist bei dir. Als kleines Zeichen seiner Anwesenheit überlasse ich dir dieses Geschenk.
In Liebe
Theresa
Ich lachte. Bis über ihren Tod hinaus war sie besorgt und versuchte, mich zu lenken. Doch sie hatte recht. Ich musste es probieren, auch wenn mir der Gedanke zuwider war. Ich wickelte das kleine Päckchen auf, das dem Brief beigelegt war. Es enthielt ein Lederband, an dem ein kleiner Fisch aus Stein hing.
Das Zeichen Gottes.
Dass es mir nicht möglich war, ein Kreuz zu tragen, hatte Schwester Theresa immer betrübt. Ich schickte ihr einen stillen Dank und vergrub mich gerührt im losen Laub des Brunnens. Ich wollte es versuchen. Für sie. Ich meditierte, ich zwang mich dazu, die Augen zu schließen und selbst, wenn es Nacht wurde, nicht zu öffnen. Ich betete, ich versuchte, alle meine Gedanken fallen zu lassen. Tatsächlich, es geschah: Ich fiel in den tiefen, traumlosen Schlaf der Vampyre.
*
Comitti legte das Manuskript auf den Tisch und erhob sich. Er streckte sich und holte eine Packung Cognacbohnen aus seiner Nachtkästchenschublade. Er brauchte Trost. Er stellte die Schachtel auf den Tisch und ärgerte sich sogleich über den Sicherheitschef, der bereits jede Praline befingerte.
»Die Geschichte ist sehr bewegend.« Comitti registrierte, wie Arconoskij zwei Cognacbohnen zusammenklaubte.
»Aufschlussreich«, murmelte Arconoskij und steckte sie sich in den Mund.
»In welchem Bezug aufschlussreich?« Comitti genoss das warme Zusammenspiel zwischen Schokolade und Cognac. »Wir wissen nicht, worauf Lucienne hinauswill.« Während er den Geschmack einer Cognacbohne genoss, hatte sich Arconoskij ungeniert zwei weitere Pralinen auf einmal in den Mund gesteckt.
Dass dieser gern aß, hatte Comitti bereits bei Käse und Brot beobachtet. Dass er allerdings hemmungslos fraß, wenn es um Süßigkeiten ging, sah man ihm nicht an.
»Ich esse tagsüber nichts«, beantwortete Arconoskij Comittis stille Frage.
*
Dann träumte ich. Ich träumte von Lisette, die nach mir rief. Ein schemenhafter Mann attackierte sie. Ihre Rufe wurden dringlicher, die Bilder der Gewalt plastischer. Ich spürte Lisettes Not und ihre Angst und erwachte.
Lisettes Schreie klangen noch in meinen Ohren, als ich die Augen aufschlug. Hatte ich geträumt oder war Lisette wahrhaftig in Gefahr? Ich horchte in mich, ob da noch etwas war, was mir Gewissheit geben konnte. Doch das Einzige, dessen ich gewahr wurde, war mein Hunger. Wie viele Jahre mochte ich geschlafen haben? Ich räumte das Laub zur Seite, das mich mittlerweile reichlich bedeckte und spähte nach oben. Der klare Nachthimmel begrüßte mich. Ich nahm das Seil, das immer noch herabhing, und wollte mich an ihm heraufziehen, es fiel morsch herab. Meine Kleidung war in keinem besseren Zustand. Die Restfeuchtigkeit, die im Brunnen herrschte, hatte sie ruiniert. Als ich mich bewegte, fiel mein Skapulier ab. Von meinem Unterkleid blieb ebenso wenig übrig. Ich besah mir meine übrigen Sachen. Theresas Briefe waren vermodert, meine Habseligkeiten waren verschimmelt. Ich hatte nichts am Leib und keine Habe. Das Einzige, was ich hatte, war Hunger. Nackt, wie ich war, kletterte ich die Brunnenwand hinauf und zog mich über den Brunnenrand. Im Schutz der Dunkelheit schlich ich mich auf den Hauptweg, immer auf der Hut, nicht entdeckt zu werden. Aber es gab niemanden, der mich mitten im Gebirge hätte entdecken können.
Ohne eine Faser am Leib lief ich durch die Nacht und folgte wie ein Tier meinem Instinkt. Es war kalt und die Steine unter meinen Füßen waren spitz und scharfkantig. Ich registrierte beides, aber es setzte mir nicht zu. Das Einzige, was mir zusetzte, war mein Hunger. Er trieb mich. Bevor ich das aufgeregte Blöken der Ziegen vernahm, witterte ich bereits ihr pulsierendes Blut. Ein Hund schlug an und wies mir die Richtung. Ich schlich mich an zwei windschiefe Gebäude heran und schlüpfte in den Stall. Meine Gier machte mich unaufmerksam, darum bemerkte ich nicht gleich den melkenden Mann. Ich griff bereits nach einer Ziege, als mich ein Geräusch herumwirbeln ließ. Der Melkschemel war umgefallen, als der Mann aufgesprungen war und nach der Mistgabel griff. Ich erkannte die Angst in seinen Augen, aber auch den Willen, mich zu töten. Der Angriff des Mannes ließ die Kreatur in mir erwachen. Ich wehrte mit einer Hand die Mistgabel ab und griff mit der
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