Vatikan - Die Hüter der Reliquie (German Edition)
Vater genannt.«
»Anscheinend fanden die Leute, bei denen er aufwuchs, Miguel angemessen.«
»Dann ist er bei einfachen Leuten aufgewachsen?«
Argyle nickte düster. »Unter anderem. Aber er wird Euch das selbst erzählen wollen.«
Ein Glücksgefühl durchfuhr mich und ich sprang auf. Gleich würde ich Lisette treffen und meinen Sohn kennenlernen. Ich hielt in der Bewegung inne. Mac Quiet schien meine Freude nicht zu teilen.
»Seid vorsichtig, Lucienne. Ich werde an dem Bankett, das Euch zu Ehren gehalten wird, nicht teilnehmen. Haltet Eure Gedanken im Zaum. Ich werde über Euch wachen, doch mir sind die Hände gebunden.«
Ich verstand kein Wort. Die Vorfreude, gleich meinen Sohn und Lisette zu sehen, brachte mich durcheinander.
Argyle führte mich zur Salontür. Ich hörte verschiedene Stimmen und war furchtbar aufgeregt. Mac Quiet drückte mir aufmunternd die Hand und verschwand. Noch ehe ich anklopfen konnte, wurde die Tür geöffnet.
Ein junger Mann von vielleicht fünfzehn Jahren trat mir entgegen, verbeugte sich galant und reichte mir den Arm. Ich starrte ihn an. Er war Salvador wie aus dem Gesicht geschnitten. Aber er war viel zu jung! Ich musste mich irren. War er mein Enkel? Wie im Traum betrat ich den Salon an seinem Arm. Ein Kreis von Menschen erwartete uns.
»Darf ich euch voller Freude meine Mutter vorstellen?« Der junge Mann an meiner Seite hatte eine wohlklingende, für sein Alter bereits sonore Stimme. Alle um uns herum waren verstummt. Sie verbeugten sich gleichzeitig, wie von Geisterhand geführt. Mir war diese Zurschaustellung meiner Person peinlich. Ich verstand nicht, warum sich diese fremden Menschen vor mir verbeugten und sah verwirrt zu dem Jüngling, der lächelte.
»Nun, Mutter, ich freue mich, Euch kennenzulernen.« Er küsste mir die Hand und leitete mich galant zu einem Sessel, auf den ich mich niederfallen ließ. Meine Beine hätten im nächsten Augenblick unter mir nachgegeben. Ich verstand seine Jugend nicht. Er sah aus wie ein Fünfzehnjähriger, höchstens ein Siebzehnjähriger. Nicht wie ein ausgewachsener Mann von siebenunddreißig Jahren.
»Ich finde, Ihr seht auch sehr jung aus für Euer Alter.« Er unterbrach meine Gedanken. Alle um uns herum lachten. Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte – also nickte ich stumm. Dass keine peinliche Stille entstand, lag an Miguel, der charmant zu plaudern anfing. Er fragte mich nach meiner Reise, erklärte, wie sehr er sich freue, mich endlich kennenzulernen, schmeichelte, wie hübsch ich aussähe, und unterhielt mich auf diese Weise mit einfacher Konversation. Dabei beobachtete er meine Verwirrung mit sichtlichem Vergnügen.
»Ich werde meine Lebensgeschichte später erzählen, dann werdet Ihr es verstehen«, sagte er und tätschelte meine Hand.
»Ist Lisette auch hier?«, fragte ich, als ich meine Stimme wiedergefunden hatte.
»Ja, gewiss. Sie hat leider eine Abneigung, mit uns zu dinieren. Aber macht Euch keine Sorgen, Ihr werdet sie früh genug zu Gesicht bekommen.«
Wie auf ein geheimes Zeichen versammelten sich alle an der Tür, die zum Saal führte. Warum Miguel gezwinkert hatte, als die Rede auf Lisette kam, wurde mir nicht klar. Ich erinnerte mich an Mac Quiets Warnung und dachte an einen dunklen Raum. Tatsächlich fühlte ich mich sofort sicherer, was, als wir auf noch mehr Gäste stießen, notwendig wurde. Zwei Lakaien hatten die Saaltüren geöffnet und Miguel reichte mir abermals den Arm, um gemeinsam in den Saal hinüberzuwechseln. Er machte mich mit allerlei Personen bekannt, deren Namen ich sofort wieder vergaß. Überall stellte er mich als seine Mutter vor und sprühte vor Witz und Galanterie. Unter normalen Umständen wäre ich stolz auf ihn gewesen. Sein junges Gesicht und meine beklemmenden Befürchtungen machten diesem Gefühl jedoch den Garaus. Miguel geleitete mich zur Stirnseite der Tafel und wandte sich sogleich an den Herrn zu seiner Rechten. Damit gab er mir die Zeit, mich umzusehen.
Die Gesellschaft bestand aus dreißig Personen und alle waren erlesen gekleidet. Sie schienen durchweg adelig. Die Herren trugen Abendanzüge oder Uniformen. Edelsteine funkelten. Die Ringe der Herren waren nicht weniger wertvoll als der Schmuck der Damen. Eine heitere, ausgelassene Stimmung lag auf der versammelten Gesellschaft. Ein Bankett am Hofe des Königs hätte nicht festlicher sein können. Am meisten funkelte allerdings mein Sohn. Ich konnte meinen Blick kaum von ihm abwenden. Er strahlte. Er
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