Vellum: Roman (German Edition)
Klugheit brachte er es recht schnell zum Feldwebel, und er hätte bei der Armee sogar Karriere machen können, wäre er nicht gezwungen gewesen, den kleinen Bruder seiner Liebsten wegen Fahnenflucht im Angesicht des Feindes zu erschießen.
Seamus Finnan war von Henderson und MacChuill in das Lagerhaus gezerrt worden, mit blutigem Gesicht, völlig besoffen und ohne Bewusstsein. Wie ein Sack Zement hatte er zwischen ihnen gehangen, seine Füße schleiften über den Boden. Metatron hatte ihnen ausdrücklich befohlen, Finnan nicht zu töten, ihm nichts zu tun, sie sollten ihn nur hierher bringen. Und trotzdem hatten sie ihn grün und blau geschlagen.
»Wen interessiert das?«, hatte Henderson gesagt. »Das ist doch ein Niemand.«
Finnan. Metatron geht vor der schlaffen Gestalt in die Hocke und betrachtet die Hände des Mannes, als könne er in ihnen die Zukunft lesen. Dabei liest er natürlich Finnans Vergangenheit heraus, sein Zeichen. Wenn Metatron dieses Mal richtig deutet, dann hat Seamus sein Stück Ewigkeit bei einem Selbstmordversuch gefunden, ein paar Jahre, nachdem er den Jungen erschossen hat, auf den er hätte aufpassen sollen. Vermutlich ist er zu der Feststellung gelangt, dass Leben und Kämpfen einfach nichts für ihn sind. Und vermutlich hat er sein Vorhaben nicht mit der nötigen Konsequenz in die Tat umgesetzt. Metatron dreht die Hand um, betrachtet sie eingehend. Kein Zweifel, das Zeichen des Todes ist nicht zu übersehen. Kein seelischer Tod, kein symbolischer Tod, sondern ein Tod im wörtlichen Sinne. Ebenso gut könnte es dort schwarz auf weiß geschrieben stehen. Feldwebel Seamus Finnan ist nicht in den Schützengräben der Somme gestorben, sondern einige Zeit später, von eigener Hand.
Metatron mustert den betrunkenen, geschlagenen Mann. Finnan mag bewusstlos sein, aber er lebt. Ein Rätsel, aber die Antwort wird sich bald finden.
»Wascht ihn und sorgt dafür, dass er nicht abhauen kann«, sagt er zu Henderson. »Sagt mir Bescheid, sobald er wieder bei Bewusstsein ist.«
Das Küken und der Junge, der sich davongemacht hat, sind längst verschwunden – die eine auf langer Wanderschaft durch das Vellum, der andere tot, ein harmloses Gespenst in den Randgebieten der Wirklichkeit, ein Tod unter zahllosen anderen. Zwischen Finnan und Eresch gibt es keinen direkten Zusammenhang, aber vielleicht, ganz vielleicht wusste der junge Messenger, was Eresch vorhatte, mit welch unsagbaren Mächten sie spielte, welche Mächte ihr Tod freigesetzt hat.
Und vielleicht, ganz vielleicht hat er es seinem Freund Seamus Finnan erzählt.
1
Die Hämmer des Hephaistos
Der Pfad des Toten
»Ans Ende der Welt sind wir gelangt«, spricht Unteroffizier Krafft, während er und Metzger ihre schnarchende und schmutzige Last mit sich schleifen. »In der Sense weiten Raum, in menschenöde Einsamkeit.«
Er sieht sich seine Welt an, doch vieles liegt außerhalb seines Gesichtsfeldes — das ferne Donnern der hunnischen Artillerie, der Himmel ein blauer Streifen über dem Schützengraben. Ihm kommt alles vor wie eine Bühne, die hölzernen Schwarten und Sandsäcke nur Staffage, die schlafenden Soldaten nur Requisiten, von der Wirklichkeit so weit entfernt wie von der Menschheit.
»Gedenke der Befehle, welche dir die Herzöge erteilten«, sagt er zu Schmidt. »Binde diesen dreisten Aufrührer mit unlösbaren Adamantiumketten an den steilen Fels. Denn dein Kleinod, das kostbare Feuer, hat er den Menschen gegeben, auf dass ihre Künste erblühen. Für solchen Frevel gebührt der Götter Strafe ihm, auf dass er lerne, sich der Herrschaft der Herzöge zu fügen, sein menschenfreundlich Wesen abzustreifen.«
Schmidt humpelt hinter den Feldjägern her und klirrt mit den Ketten, die er trägt. Sein Schützengrabenfuß hindert ihn daran, schneller zu gehen. Eigentlich sollte er gar nicht hier sein! Er ist einfacher Soldat bei den Sheffield Pals, diese verdammte Scheiße geht ihn nichts an. Nein, wirklich nicht.
»Krafft und Metzger«, sagt er. »Das Gebot der Herzöge habt ihr erfüllt, weitres bleibt euch nicht zu tun. Aber ich ertrage es nicht, diesen unseren fürstlichen Bruder mit Zwang an diesen kalten Stein zu fesseln.«
Nur wenige Schritte vor Schmidt hängt der Gefangene zwischen Krafft und Metzger, und seine Füße schleifen über das Laufbrett. Krafft und Metzger bleiben kurz stehen, um ihn ein Stück hochzuhieven und fester zu packen. Dann schleppen sie ihn weiter den Schützengraben entlang.
»Gleichwohl
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