Vellum: Roman (German Edition)
er merkwürdige Dinge oder sogar beides, denn irgendwas stimmt nicht mehr mit dieser Welt. Dieser Kerl — Schmidt — sagt eigentlich andere Dinge als das, was Seamus hört. Verdammt, er ist sich dessen sicher, dass da etwas nicht stimmt. Er hat früher schon miterlebt, wie Krafft einen Gefangenen mit Tritten schlimm zugerichtet hat, aber so noch nie. Herrgott, das würde Fritz vielleicht einem Soldaten antun, den er auf der falschen Seite des Stacheldrahts erwischt.
Krafft kommt näher, greift hinter sich und zieht das Bajonett aus der Scheide. Er reicht es Schmidt. O Gott. O Himmel Herrgott.
»Treib ihm jetzt die widerspenst’ge Spitze dieses Adamatiumkeils mit aller Kraft durch die Brust!«
O Himmel Herrgott Jesus Maria.
»Ach, ach«, sagt Schmidt. »Prometheus, deine Not bewein ich laut.«
Prometheus
Seamus blickt auf das Bajonett hinab, dessen Spitze gegen seine Brust gedrückt wird. Das ist doch Wahnsinn! Ganz bestimmt träumt er. Ganz bestimmt ist er besoffen und träumt, vom Whiskey des Hauptmanns völlig zugedröhnt und in einen verdammten Albtraum hineingeraten. Klar doch; und welcher Tag ist heute und wer ist Premierminister, wo bin ich und was habe ich hier verloren? Doch obwohl er betrunken ist und obwohl er erst langsam wieder zu Verstand kommt, nachdem er brutal zusammengeschlagen worden ist, kann er sich gut an alles erinnern. Er weiß ganz genau, wie weit der Schützengraben von der Ancre entfernt ist, er weiß, dass heute der 28. Juni ist, dass Lloyd George und Haig das Sagen haben. All das passt so verdammt nahtlos zueinander — mit Ausnahme des Geredes und des Bajonetts —, dass er sich über seine augenblickliche Situation völlig im Klaren ist. Er hegt keine Zweifel an dem, was mit ihm geschieht. Aber was dann ...
Schmidt hält das Bajonett eine Ewigkeit lang umklammert.
»Du zauderst wieder und beklagest laut den Feind der Herzöge?«, sagt Krafft. »Gib Acht, dass du nicht bald dich selbst bejammern musst.«
»Du siehst ein Schauspiel, das schwer zu ertragen ist«, sagt Schmidt, aber seine Lippen formen die Worte O Gott, es tut mir leid. Jesus Maria, so hat auch Seamus das Gesicht verzogen, als der arme Thomas überschnappte und er und die andere Kerls ... versuchen mussten, ihn mit groben Worten und noch groberen Schlägen wieder zur Besinnung zu bringen. Und danach, als Seamus davonging, kam er an einem kleinen Rasierspiegel vorbei, der an einem Haken an der Wand hing, und blickte kurz hinein — ganz genau derselbe Gesichtsausdruck. Es tut mir leid, dass ich dir das antun muss. Der Gesichtsausdruck eines Menschen, der sich sagt, dass er keine andere Wahl hat.
Und das Bajonett bohrt sich durch seine Brust, durch Haut und Fleisch und Knochen, durch sein Herz, unaufhaltsam, bis es mit einem dumpfen Geräusch in das Holz in seinem Rücken eindringt.
»Den wohlverdienten Lohn erhielt er nun«, sagt Krafft, als Seamus Finnans Welt vor Schmerz in Helligkeit versinkt.
Ganz bestimmt ist das ein Albtraum. Scheiße, muss es einfach sein.
»Auf! Um die Seiten lege ihm Achselbänder.«
Seine Welt ist blendend weiß. Der Schmerz fährt ihm mitten durch die Brust — wie in den verdammten Gasbaracken, als sie sich auf die Senfgasangriffe vorbereiteten. Bisher ist ihm das Gott sei Dank erspart geblieben, auch wenn er Kameraden gesehen hat, die nicht so viel Glück hatten, die Himmel Herrgott ihre Masken nicht aufgesetzt bekamen, bevor sie einen halben Atemzug schluckten, nicht einmal eine Lunge voll, und dann keuchten sie, Himmel, sie keuchten, so wie er jetzt, seine Lunge brennt, sein Herz brennt, sein Rachen brennt, als würde etwas versuchen, aus ihm hervorzubrechen.
»Ich weiß, wes es bedarf. Treib mich nicht an.«
Die ungestüme Flut seiner Schmerzen tobt jetzt auch in seinem Kopf, der Schmerz ist so durchdringend, dass er ihn hören kann, er kann ihn verdammt noch mal hören, ihre fernen Stimmen werden von ihm übertönt.
»Und ob ich dich antreiben werde, und noch viel mehr. Beuge dich, zwäng ihm die Schenkel eisern ein.«
Er hört das ferne Grollen der Kanonen, das Dröhnen von Metall auf Metall, in seinen Ohren hämmert es.
»Die Arbeit ist nicht schwer. Fast ist sie schon getan.«
Rumms. Rumms. Rumms. Und die ganze Zeit über hört er das Tier brüllen, das in ihm gefangen ist.
»Nun schlage unlösbar die Fußfesseln ihm fest. Denn deiner Arbeit Richter ist, du weißt es, streng.«
»So wüst dein Aussehen«, hört er Schmidt sagen, »deine Zunge
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