Vellum: Roman (German Edition)
es?«, fragt er.
Sie wirft einen Blick auf den Wecker, der auf dem Nachttisch steht. Die roten LEDs flackern horizontal und vertikal, ohne Sinn und Verstand. Zahlen sind nicht zu erkennen.
»Zeit für die Apokalypse«, sagt sie. »Wen interessiert das?«
Furchtbare Schönheit entstand
»Mich interessiert das!«, faucht Metatron.
Die beiden Neuzugänge stehen stumm und mürrisch da, und er mustert sie mit finsterem Blick. Sie sollen Carter und Pechorin ersetzen, aber sie taugen sogar noch weniger. Wie all die anderen Unkin-Krieger sind sie kaum mehr als hirnlose Waffen. Auf sich gestellt, wissen sie gerade einmal, wen oder was sie töten sollen, und Metatron hat es satt, sich mit ihnen herumzuschlagen. Für einen Menschen gibt es endlos viele Möglichkeiten, die Barrieren in ihren Köpfen zu durchbrechen und einen Blick auf das Vellum zu erhaschen. Schlimmstenfalls fallen die Mauern ganz und ein Schlag mit einem Brecheisen auf die richtige Stelle spaltet ihnen den Schädel. Dann gäbe es nichts mehr, was die toten Seelen daran hindern könnte, sich einen Weg auf die andere Seite zu bahnen. All die Dichter und Propheten, die in einem Sandkorn die Wahrheit aufspüren, all die Mathematiker, die zufällig auf die Geometrie des Himmels stoßen und die trotzdem nicht den Verstand verlieren. Aber wo finden diese Geschöpfe ihre großen Augenblicke des Satori, ihr plötzliches Erlebnis der Erleuchtung? In der Herrlichkeit des Krieges. Als letzte Überlebende auf einem mit Leichenteilen übersäten Schlachtfeld. In der ... Schönheit eines Dschungels, der unter einem Napalmangriff erblüht. Dabei treten sie für eine Sekunde aus der Wirklichkeit hinaus, und wenn sie sich wieder in ihr befinden, haben sie etwas von der anderen Seite mitgebracht. Einen winzigen Bruchteil der Ewigkeit, in der Erinnerung an diesen vollkommenen Augenblick festgehalten.
Fangen wir mit Henderson an. Früher war er bei der ›Neuen IRA‹. Sein Zeichen hat er dank einer Autobombe der ›Hand of Ulster‹ gefunden. Damals stand er am Fenster seines Vorstadtbungalows, hinter dem Spitzenvorhang, und schaute zu, wie seine Frau den Hund hinten in den Wagen springen ließ und die Heckklappe zuknallte. Sie ging zur Fahrerseite hinüber und warf ihm einen kurzen Blick zu, das Gesicht ausdruckslos und beherrscht – sie würde bei einer Freundin bleiben, hatte sie gesagt, nur für eine Weile. Und dann stieg sie ein, zog die Autotür ins Schloss und steckte den Schlüssel in die Zündung. Es lag wirklich nicht daran, dass er sie liebte, obwohl er sie von ganzem Herzen liebte. Nein, in jenem Moment hasste er sie so sehr, dass er, als das Doppelfenster von der Explosion nach innen gedrückt wurde, die ganze brutale Ästhetik dieses Augenblicks erfasste.
Furchtbare Schönheit entstand.
Kommen wir zu MacChuill. Er war Soldat bei den Royal Scots Engineers, einer der Stützen des britischen Imperiums. Ganz gleich, wohin man sie schickte – sie bauten eine Brücke oder sprengten eine in die Luft. Seine Vergangenheit ist etwas zwielichtig. Als sie ihn aufspürten, lebte er im Dschungel Borneos und hatte nicht die geringste Ahnung von den Unkin oder dem Vellum. Er war nicht einmal mehr in der Lage, Englisch zu sprechen, von der Sprache der Engel ganz zu schweigen. Metatron weiß noch immer nicht, nach welchem Krieg er dort gestrandet war. Aber er weiß, dass er einige Zeit in einem Kriegsgefangenenlager zugebracht hat. Dort wurden seine Kameraden einer nach dem anderen gefoltert und schließlich exekutiert, bis nur noch er übrig war. Da fing MacChuill an zu singen, er sang seinen Feinden etwas vor, er sang seine Feinde an, er entriss seiner ausgedörrten Kehle Laute, als wolle er seine Seele gleich mit herausreißen und sie ihnen wie einen Fehdehandschuh vor die Füße werfen: Ihr Wichser, mich bekommt ihr nicht klein! Nein, die Sprache der Engel ist ihm fremd. Aber in seiner kehligen Stimme liegt ein voller Klang, und wenn er spricht, beben die Dielen jedes Zimmers, in dem er sich befindet, im Unterschallbereich.
Es war einmal ein Soldat, ein schottischer Soldat.
Und schließlich Finnan. Feldwebel Seamus Finnan. Hat sich zum Kampf für König und Vaterland gegen den Kaiser verpflichten lassen. Besser gesagt, er wollte auf den kleinen Bruder seiner Verlobten aufpassen, der sich zusammen mit fünf Schulfreunden und zahllosen anderen Kindern mit edlen, närrischen Träumen freiwillig gemeldet hatte. Dank seines Alters und seiner
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