Vellum: Roman (German Edition)
herein. In manchen der Wirklichkeiten, in denen sie auf ihrer langen Flucht Zwischenstation gemacht hat, gab es Versuche, dafür eine Erklärung zu finden. Geheime Nanotechexperimente der Regierung, die schief gelaufen waren. Gefäße mit dem Zorn Gottes, die über die Welt ausgeschüttet wurden. Es kann gut sein, dass sie im großen weiten Vellum die Einzige ist, die genau weiß, was wir sind.
Und in Ivans Sportsbar und Grillhaus singt Silentium noch immer.
Alles, was einst geschrieben ward, was zu lernen uns der lauschende Lorbeer gebot, der fröhliche Strom all dessen, was wir von einer brütenden Sonne vernommen, singt er. Und Silentium singt, bis die erschütterten Täler den Klang zum Himmel tragen und am Olymp schon der Abendstern hervortritt, und er heißt die Schäfer:
»Erzählt all eure Geschichten von Schafen und geht, treibt sie herbei und in den Pferch.«
Errata
Anästhesiä Verkündigung
Sie streicht sich mit der Hand über den Bauch, den Blick auf den Fernsehschirm gerichtet. Mit der Fernsteuerung schaltet sie von Programm zu Programm, auf der Suche nach CNN oder einem anderen englischsprachigen Sender – alles, nur kein Spanisch. Herrgott, und auf keinen Fall Fox. Zu ihrer Überraschung stößt sie schließlich auf die BBC World News und bleibt dabei. Auf dem Bett liegend verfolgt sie, wie eine Nachrichtensprecherin einen Korrespondenten draußen in der Wüste vor Bagdad interviewt.
»... jetzt. Die Nachrichtendienste der Alliierten haben jedoch verlauten lassen, dass ihre Quellen andere Schlüsse nahelegen: Die Angriffe seien nicht von einer bestimmten Terroristenfraktion ausgeführt worden, sondern von mehreren miteinander verbündeten Splittergruppen, die ein lockeres Netzwerk bilden –«
Ist das nicht ein Widerspruch in sich, denkt sie, ›miteinander verbündete Splittergruppen‹?
»... an den Gerüchten, dass die Alliierten Nanotechwaffen eingesetzt haben?«
»Nun, wir wissen, dass die Amerikaner in den letzten Jahren sogenannte Nanoüberwachungssysteme eingesetzt haben, aber –«
Wie verdammt aufregend, denkt sie. Über dieses Zeug verfügen wir bereits ... seit einer Ewigkeit.
Sie betrachtet die Tätowierung auf ihrem Arm. Inzwischen ist sie schon seit drei Monaten unverändert. Das Gefühl flackernder Unsicherheit, ob sie nun Phreedom oder Inanna oder irgendetwas dazwischen ist, hat sich gelegt.
Knopfhörer und Datenstick liegen auf der Kommode neben dem Fernsehapparat. In einer Falte des Vellum, wo es keine VR gibt, haben sie höchstens Schrottwert. Immerhin sind ihre Musikdaten noch darauf gespeichert, völlig nutzlos sind sie also nicht. Manchmal legt sie sich die Knopfhörer auf den Bauch und spielt dem Kind ein paar Stücke Sex Pistols oder Clash vor. Scheiß auf den klassischen Mist; ihre Kinder werden gottverdammte Rebellen sein. Bei den Rolling Stones tritt er am häufigsten.
Er streicht ihr mit der Hand über den Bauch und verteilt das Gel mit sanften Bewegungen. Dabei lächelt er sie an und unterhält sich mit ihr. Er fragt sie, ob sie aufgeregt sei und Pläne für die Zukunft schmiede. Bestimmt ist sie maßlos glücklich und bestimmt findet sie das Gel ein bisschen kalt. Er fährt mit dem Scanner über die Haut und betrachtet aufmerksam den Bildschirm – wie sie auch, voller Staunen über diesen voll entwickelten Fötus in ihr, der sich behaglich zusammengekugelt hat.
»Nun, Hörner kann ich keine erkennen«, sagt er. »Ich kann Sie also beruhigen, es ist nicht der Antichrist.«
Er lacht, aber es klingt ein wenig nervös. Nachdem, was in der Abtreibungsklinik in New England passiert ist, gibt es eine Menge besorgter Geburtshelfer und viele werdende Eltern, die der Panik nahe sind. Trotzdem sollte er sich nicht so verdammt sicher sein, denkt sie.
»Auch keine Flügel«, sagt er. »Inzwischen ist das sogar eher ungewöhnlich. Das ist das erste völlig normale Kind, das ich seit langem gesehen habe.«
Das will sie nicht hören. Sie will nichts von der sogenannten ›Kindersterblichkeitsrate‹ hören. Sie will nichts von neugeborenen Kindern hören, die mit ihrem ersten Atemzug keinen durchdringenden Schrei ausstoßen, sondern Prophezeiungen. Sie will nichts von verdammten Omen und Zeichen und Wundern hören, die heutzutage für einen Groschen zu haben sind.
»Ist es ein Junge oder ein Mädchen?«, fragt sie.
»Ein Junge«, sagt er. »Haben Sie sich schon für einen Namen entschieden?«
Du solltest es ›Phuture‹ nennen, hatte Finnan
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