Vellum: Roman (German Edition)
hat und wieder Tageslicht um ihn ist, Gott sei Dank, der blendende Sonnenschein eines brütend heißen Sommertages in Mexiko.
Er lehnt sich gegen die Mauer des Schlachthofes, sein Blick schweift über die Lastwagen, die vor der Verladerampe stehen, zu den grünen Bergen hinüber, zum blauen Himmel hinauf, vor dem schwarze Punkte kreisen, irgendwelche heimischen Raubvögel. Auf diese Entfernung wirken sie winzig, so weit oben, wie die Bitläuse, die im Gehirn des Gefangenen herumkriechen – die Bitläuse, die Metatrons Auftrag ebenso gut erledigen könnten. Sollen sie doch den armen Kerl in Stücke reißen, ihm unter die Haut gehen und ihm ›etwas näherkommen‹. Sie sind nur Maschinen. Sie plagt kein Gewissen, kein Mitleid. Er beobachtet die kreisenden Vögel.
Aasgeier, denkt er. Verdammte Aasgeier.
Ein Atlas aus Titan
Draußen ächzt und tost das Meer, Wellen bilden dunkle Schattenhöhlen. Irgendwo unter der Erde ertönt ein Murmeln, als beklage jemand seinen entsetzlichen Zustand.
An der Wand des Arztzimmers hängt ein Gemälde. Seamus erkennt, dass ein Sklave des Michelangelo dafür Modell gestanden hat, denn Thomas hat ihm einmal eine Zeichnung davon in seinem Skizzenbuch gezeigt. Das gehörte zu den Dingen, über die er sich Sorgen gemacht hat — der Junge war einfach zu sensibel. Und dann all die Bilder von halbnackten Männern! Seamus ist es egal, wie hochtrabend Thomas sich ausdrückte und ob es sich dabei um eine Kontrapostpose handelte oder was: Trotzdem ist es immer noch ein Kerl in Ketten, der keine Klamotten anhat und der sich mit seinen Marmormuskeln vor Schmerzen oder in Ekstase windet. Aber der Mann auf dem Gemälde ist wie ein Atlas aus Titan gemalt, mit einem riesigen Himmelsglobus auf den Schultern, und ein wenig sieht es aus wie von dem kleinen Spanier gemalt, den Thomas so sehr mochte — manches scheint am falschen Ort zu sein, man kann nicht genau unterscheiden, wo der Körper aufhört und der Globus anfängt, gemalte Bäche entspringen den Quellen und Brunnen, werden zu kristallklaren Flüssen und netzen die Wangen des Kerls wie Tränen aus empfindlichen Augen.
»Ist das irgendwie moderne Kunst?«, fragt Seamus.
Reynard seufzt mitfühlend, blickt über die Schulter zu dem Gemälde hinüber und wendet sich dann wieder Seamus zu.
»Das ist von einem der anderen Patienten«, erklärt er. »Übrigens ein ähnlicher Fall wie der Ihre.«
»Wieso — hat er auch verbalen Dünnpfiff? Redet er auch die ganze Zeit dummes Zeug?«
»Bei ihm äußert sich das visuell. Wir haben alle Hände voll zu tun, ihn daran zu hindern, auf die Wände zu malen. Aber Sie sollten nicht so abfällig darüber sprechen —«
»— dass manche Leute in Zungen reden? Doktor, ich bin keiner der verdammten zwölf Apostel«, sagt Seamus. »Und es ist auch nicht der Heilige Geist, der aus mir spricht.«
Reynard greift nach einem Bündel loser Blätter, klopft sie zurecht, legt sie wieder hin.
Seamus deutet auf das Gemälde.
»Und, ist der Kerl auch verrückt?«
Reynard schüttelt den Kopf. Er nimmt die Brille an, stützt sich mit einem Ellbogen auf den Tisch, reibt sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase.
»Ich würde Sie oder ihn nicht als verrückt bezeichnen, nicht per se.«
Er sieht müde aus, denkt Seamus, und er hört sich auch müde an. Kein Wunder, schließlich lebt er mit einem Haufen von Verrückten zusammen.
»Nein«, sagt Reynard. »Manchmal denke ich, dass wir anderen den Verstand verloren haben. Wie dem auch sei«, wechselt er rasch das Thema, »möchte ich mit Ihnen über letzte Nacht sprechen.«
»Das tut mir leid«, sagt Seamus.
Den halben Flügel soll er aufgeweckt haben, heißt es. Im Speisesaal musste er sich eine ganze Reihe finsterer Blicke gefallen lasen.
»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Sie hatten einen Albtraum ...«
»Ja ...«
Seamus erzählt ihm, wie er sich plötzlich im Schützengraben wiederfand. Und da war der hochmütige Herzog mit seinem eisernen Stab, der die Jungs herumkommandierte und sich Gesetze ausdachte, als wäre alles nur ein Spiel, tut dies, tut das, und er schickte sie los, um Glanz und Glorie zu erkämpfen für ihr Land, und sogleich ziehen sie los auf das Schlachtfeld und sie kennen keine Angst, aber statt Gewehre haben sie Sensen, um das Land zu bearbeiten. Sie kommen nur langsam vorwärts, schwingen ihre Sensen, während sie über Gräben und Krater hinwegschreiten, die bis zum Rand voll Wasser sind, über Teiche und Seen,
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